Die besten Avantgarde Metal Alben der 90er Jahre II

Der Beweis, dass Metal gar nicht so konservativ sein muss, wie ihm gemeinhin nachgesagt wird, Part zwei von drei. Dieses Mal gibt es avantgardistische Crossover Metal Attacken von Dog Fashion Disco, düsteren Post Black Metal von Maudlin of the Well, Mike Patton Irrsinn von den Soundtüftlern Fantomas und viel verqueren dissonanten Jazzcore, den John Zorn sowohl bei GOD als auch Naked City mit ungeheurer Virtuosität und unzähligen, fanatisch fantastischen Ideen zelebriert. Dass Avantgarde Metal durchaus auch eingängig sein kann beweisen die Traditionalisten von Atheist ebenso wie die Alternative Industrial Metaller von Kovenant. Aber auch bei diesen, werden die Riffs, Hooklines und Melodien alles andere als gewöhnlich präsentiert.

Dog Fashion Disco – Experiments in Alchemy

(Selfrelease, 1998)

Die Verbindungen von Crossover und Avantgarde Metal blitzt in den 90ern immer wieder auf, mal mehr mal weniger. Bei Dog Fashion Disco gehört sie fest zum Programm. Inspiriert von avantgardistischen Kreuzüber-Pionieren wie Mr. Bungle, Faith No More und vor allem Patton, Patton, Patton zelebrieren sie auf dem noch ziemlich rohen 98er Bastard eine verquere Mischung aus Noise Rock, Experimental, Free Jazz und Alternative Metal, der einen Hang zur Melodik und zur eingängigen Hookline nicht verbergen kann und doch immer wieder beim obskuren Kopfkino ankommt. Experiments in Alchemy ist mit einem geradezu den Punkt treffenden Titel gesegnet: Frei von Regeln, Schranken und Dogmatismen mixen Dog Fashion Disco alles zusammen, was ihnen in den Sinn und in die Hand kommt: Funk? Wieso nicht? Jazz? Klaro! Ambient? Und ob! Metal…? Nur her damit. Nein, das klingt nicht homogen, nicht rund, nicht verschmolzen und fusioniert… stattdessen wie ein derber Albtraum auf einem fragmentarischen Flickenteppich. Das avantgardistische Metal-Fegefeuer des Crossover und auch heute noch eine extrem unterhaltsame Post-Metal-Achterbahnfahrt.

Maudlin of the well – My Fruit Psychobells… A Seed Combustible

(Dark Symphonies, 1999)

Um nicht Teil eines gigantischen Genre-Klischees zu werden suchte so manche Gothic-, Dark- und Black Metal Band gegen Mitte und Ende der 90er Jahre ihr Heil in der Flucht Richtung Progressive und Avantgarde. In Folge dieser Bewegung entstanden nicht nur einige herausragende Alben sondern auch gleich wiederum ganz eigene Nischen des Extreme Metal, die mit Bands wie Kayo Dot in den 00er Jahren erfolgreich weiter existierten. Maudlin of the well gehören zu den Pionieren dieser New Wave of Dark Avantgarde Metal. Auf My Fruit Psychobells kreuzen sie ganz unbekümmert Doom- und Dark Metal Versatzstücke mit freejazzigen Interludien und klassischen Prog-Versatzstücken, die an die Genre-Urväter von King Crimson erinnern. Der wilde Ritt durch die avantgardistische Musikgeschichte sorgt für erhöhten Puls und vor allem permanente Überraschungen, wenn ein dichter Postrock-Sound mal so eben von brutalen Black Metal Attacken zerschnitten wird, um kurz darauf in psychedelische Soundexperimente abzudriften: Heterogen, zerfetzt, aufwühlend… und alles in allem eine großartige Klangoffenbarung, die ohne Dogmen zwischen Zeiten, Genres und Emotionen oszilliert.

Fantomas – Fantomas

(Ipecac, 1999)

Fantomas dagegen kommen wiederum aus dem Avantgarde- und Experimental-Bereich und nutzen den Metal letzten Endes nur als eine Projektionsfläche unter vielen möglichen. Songwriter und Mastermind des Projekts ist Mike Patton (Faith No More), und dass dieser zu allem in der Lage ist, dürfte hinreichend bekannt sein: Zwischen experimentellen, dadaistischen Klangkonstruktionen, antiepischen Klanglandschaften, zersetzten Dissonanzen und atavistischen Noise-Attacken, keift Fantomas irgendwo zwischen Dada und Gaga, zwischen Kunst und Zerwüstung, zwischen Klang und unhörbarer experimenteller Masturbation. Das Debüt der Supergroup (u.a. mit Dave Lombardo von Slayer, Buzz Osborne von den Melvins und Trevor Dunn von Mr. Bungle) ist ein in 30 Seiten unterteilter Noise-Rausch, dessen Fragmente sich gegenseitig zerfleischen, ineinander fallen, erklingen und wieder verklingen, schreien, der Stille Platz machen und meistens nicht länger als eine Minute auf einem Platz verweilen. Das ist herausragend kaputte Filmmusik für Antifilme, atmosphärisches Rauschen für alle Menschen, die Atmosphäre hassen und ein stetig zwischen Euphorie und Unhörbarkeit pendelnder Albtraum. Kann man – so abgedroschen das auch klingen mag – nur lieben oder hassen.

GOD – The Anatomy of Addiction

(Big Cat, 1994)

Ganz ähnlich alptraumhaft experimentieren auch die Fusion- und Jazzcore-Killer von GOD, die es auf gerade mal zwei Studioalbum schafften und mittlerweile ein wenig in Vergessenheit geraten sind. Zu Unrecht: Die dunkle Mischung aus Free Jazz, Postrock, Mathcore und Sludge Metal, die sich auf The Anatomy of Addiction wiederfindet, ist ein einziger destruktiver Sog, dessen Abgründe von progressiven Klangkonstruktionen beherrscht werden. Dabei sind die instrumentellen Klangkonstruktionen weit vom reinen Zorn vieler Avantgarde Metal Bands entfernt. Zwischen heftigen Riff-Attacken regnet es psychedelische Auflockerungen, progressive Interludien, die gerne das ein oder andere Mal an Krautrock erinnern dürfen, und fast schon anschmiegsame Funk-Klänge. Leicht konsumierbar wird The Anatomy of Addiction dadurch zwar nicht, aber allemal zu einem der leichtesten, jazzigsten und beschwingtesten Avantgarde Metal Spinnereien der 90er Jahre, ohne dabei an mysteriösem, surrealem Anspruch einzubüßen. Bandkopf Justin Broadrick sollte später auch für die Gründung von Godflesh verantwortlich sein und damit seine grenzgängerischen Ideen noch stärker songtauglichen Konstrukten zur Verfügung stellen.

Naked City – Radio

(Avant, 1993)

Okay…wenn wir schon mal bei Jazz sind, können wir das hier auch gleich abhaken. Natürlich ist John Zorn primär ein Jazz Artist, ein visionärer noch dazu. Wenn es um die Verknüpfung von Avantgarde, Jazz, Metal und Neuer Musik seit den 80ern geht, kommt man an dem Naked City Kopf einfach nicht vorbei. Und ja verdammt, gerade das 93er Werk Radio ist Metal… in seiner avantgardistischsten Form, gespickt mit allerlei Genrebrüchen und Störfeuern… aber im tiefsten Kern eben doch Metal: Heftige Grindcore Attacken, zerschnitten von wüsten Riffs, im dissonanten Fegefeuer taumelnd und plötzlich den Jazz und Funk entdeckend, dabei immer frei, immer improvisiert und doch ungemein kalkuliert, mathematisch, mitunter brutal direkt, dann wieder verstörend subtil, fast die Stille im Lärm entdeckend. Radio ist alles andere, als sein Titel verspricht, kann in den falschen Momenten einfach nur schocken, zermartern, gar quälen.. und ist genau deswegen so unglaublich gut und mitreißend. Ein düsteres, dystopisches Grindmassaker und ein Experimental Metal Jazz Massaker allererster Güte.

The Kovenant – Animatronic

(Nuclear Blast, 1999)

Anders als Naked City, die wirklich Lichtjahre von jeder Radiostation entfernt liegen, schrammeln The Kovenant an diesen nur knapp vorbei, um mitunter sogar direkt beim Hit zu landen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sie auf Animatronic ihre Symphonic Black Metal Roots einfach mal Wurzeln schlagen lassen, um sich fern von diesen in apokaplyptische, industrielle Höhen zu begeben. Das darf man dann gerne auch Industrial Metal, Neo Thrash oder sogar Alternative nennen und dabei auch kurz Richtung Korn und Dimmu Borgir schielen, in seinem Herzen bleibt es dennoch experimentell, wagemutig und eben auch avantgardistisch. Vielleicht die massenkompatibelste, MTV-tauglichste und jugendfreundlichste Version des avantgardistischen, experimentellen Metals, vielleicht sogar schon so weit im Pop, dass man Kovenant dieses Emblem ebenfalls aufdrücken darf, zumindest für einige Minuten, kurz bevor sie einen mit der nächsten unerwarteten Industrial-Attacke niedermalmen.

Atheist – Unquestionable Presence

(Relapse, 1991)

Und wenn hier schon so viel neumodischer Kram am Start ist, kann es zum Schluss auch nochmal richtig traditionell werden. Atheist kommen aus der Thrash und Technical Death Metal Ecke, was sie allerdings nicht daran hindert auf Unquestionable Presence vollkommen unbekümmert dem Progressive und Avantgarde zu frönen. Wo The Kovenant die Annäherung an die Extreme und das Experiment vom Black-, Industrial- und Alternative Metal wagen, sind Atheist tief verwurzelt im klassischen Thrash und Heavy Metal der 80er Jahre. Dabei gelingt es ihnen gekonnt, heftige konventionelle Metal-Attacken mit experimentellem Wagemut und 70er orientated Progressive Rock zu kreuzen, Jazz und Fusion in die dunklen, harten Soundwände einzuknüpfen und gleichzeitig trotzdem wie Sau zu rocken. Metal ist bei Atheist nicht nur Label sondern auch Leidenschaft und Weltanschauung. Und so ist Unquestionable Presence Avantgarde die auch in der Moshpit und auf jedem Wacken-Festival bestens aufgehoben ist, ohne dabei den Anspruch aus den Augen zu verlieren.

Bands/Künstler_Innen: Atheist, Dog Fashion Disco, Fantomas, GOD, John Zorn, Maudlin of the well, Mike Patton, Naked City, The Kovenant, | Genres: Alternative Metal, Avantgarde / Experimental, Metal, Progressive Metal, | Jahrzehnt: 1990er,


Ähnliche Artikel