Die besten Postrock-Alben der 90er Jahre III

So… Liste drei und danach ist auch wirklich Schluss mit dem Rock nach dem Rock. Muss es einfach. Immerhin befinden wir uns – gut 20 Jahre nach der Ära des Peak-Postrock – in einer Postpostrock-Ära, vielleicht auch einer Postpost-Postrock Ära oder so ähnlich. Die Karawane ist weitergezogen, hat Platz gemacht für andere avantgardistische musikalische Bewegungen, die sich teils als Erbe teils als Dekonstruktion des traditionellen Postrock verstehen. Hier soll dieser Schublade aber noch einmal gehuldigt werden: Mit Ambientklängen, mit Drone-Anleihen, mit Krautrockreferenzen und auch ein paar Metal-Einsprengseln. Auf jeden Fall mit vielen Bekannten, die der Postrock trifft, mit denen er feiert und die er dann hinterrücks erdolcht. Komm her und stirb jung, lass alles andere hinter dir, kurz bevor die Apokalypse beginnt.

Fridge – Eph

(Go! Beat, 1999)

Postrock trifft elektronischen Minimalismus. Die Briten Fridge liefern den besten Beweis dafür ab, welche musikalischen Höhenflüge man entdecken kann, wenn man den Rock nur weit genug hinter sich lässt. Steht ihr Debüt Semaphore aus dem Jahr 1998 noch ganz im Geist des Postrocks Tortois’scher Prägung, entwickeln sie sich mit dem Nachfolger Eph in eine Richtung, die Jazz und E-Musik weit hinter sich lässt und viel mehr auf Sampling, Minimalismus und Electronica vertraut. Eph ist allerdings keineswegs ein Stück kalte Electromusic. Im Experiment mit Sampler, Percussion, Bass und Tasten ist Eph ungemein warmherzig und verspielt, trägt zwar Anleihen von Industrial Noise in sich, rettet sich aber immer wieder Richtung Krautrock und Psychedelica. Hinzu kommen Klänge aus allerhand fremdländischen Einflüssen, die die ganze Welt zu umarmen scheinen, aber Gott sei Dank nie zu World Music oder exotistischem Ethnopop mutieren. Fridge spielen hier auch ein wenig Post Ambient, Post Electronica, Post Minimalism und sind dabei nicht einfach auf der Höhe der Zeit, sondern ganz weit weg von jeglichem Zeitgeist, einfach ihr eigenes Ding kreierend.

Labradford – Mi Media Naranja

(Blast First, Kranky, 1997)

Postrock trifft Industrial. Bloße Buchstaben sind es, die die einzelnen Stücke auf Labradfords vierten Album „Mi Media Naranja“ markieren, wahrscheinlich dem besten Output ihrer Karriere. Das atmosphärische Dröhnen, das die vorherigen Alben dominierte, wird hier aufgebrochen für einen ganz eigenen surrealen Soundrausch, der mit Elektronik, Flüstern, Wabern eine unfassbar starke Atmosphäre erzeugt. Selbst Stimmen sind zu vernehmen in diesem Kosmos, aber nie, um so etwas wie Text geschweige denn Hooks zu markieren, sondern viel mehr gleichberechtigt in dem großen Ganzen. Die Stimme wird hier einfach zum zusätzlichen Instrument, das neben Zupfen, Streichern und Tasten eben auch nur ein Teil eines äußerst komplexen Gesamtwerkes ist.

Karate – In Place of Real Insight

(Southern Records, 1997)

Post Rock trifft Math Rock. Mit dem selbstbetitelten Debüt, dem Nachfolger „In Place of Real Insight“ und ihrem Drittwerk „The Bed is in the Ocean“ haben die Bostoner Karate (Bitte nicht verwechseln mit den Ost-Rock-Legenden Karat!) in den 90ern gleich drei herausragende LPs veröffentlicht. Und gar nicht so leicht zu sagen, welche denn nun die beste ist: Das Debüt ist noch etwas ungehobelter, ungeschliffener, während der Drittling deutlich mehr an Emo und Indie Pop orientiert ist. Entscheiden wir uns also für die goldene Mitte, die an dieser Stelle aber stellvertretend für alle drei Werke stehen soll. Bei Karate trifft Postrock auf Math Rock, werden atmosphärische Klanggebäude errichtet und dann einmal den Pop-Hunden zum Fraß vorgeworfen. „In Place of Real Insight“ wirkt aus der Ferne betrachtet fragmentarisch, zersetzt und zerstückelt, je näher man sich diesem Biest nähert, um so geschlossener und klarer strukturiert wirkt es. Der dreckige, mal gelangweilte, mal höchst emotionale Gesang von Geoff Farina scheint sich immer im Tanz und auch im Widerstreit mit dem kämpfenden Instrumentarium zu befinden, das Strukturen auslotet, zerstückelt, das Elegische andenkt und sich dann doch für die Sezierung entscheidet. „In Place of Real Insight“ ist ein kleiner Rausch und eine große Versuchsanordnung, ein Must Hear für alle Freund*Innen des Math Rock der 2000er Prägung.

Envy – From Here to Eternity

(H.G. Fact, 1998)

Postrock trifft Postcore, trifft Screamo, trifft Postmetal. Oder vielleicht auch umgekehrt. Die Japaner Envy kommen ursprünglich aus der Screamo und Hardcore-Ecke, entwickeln sich aber im Laufe der späten 90er – und noch mehr der frühen 2000er Jahre – zu einer Soundschmiede, die Pathos, Wut und Größe perfekt in Einklang bringt. Aber auch bereits ihr Debütalbum „From Here to Eternity“ zeugt von diesem Wandel. Selbst wenn wir hier die Punk-Wurzeln noch stärker hören als bei späteren Werken, auch wenn das Schreien von Vocalist Tetsuya Fukagawa sehr viel Raum einnimmt, ist das „Mehr als das“ immer auch mehr als eine bloße Ahnung. Envy liefern das, was großartiger Postrock oft liefert: Ein Wechselbad der Gefühle. „From Here to Eternity“ kultiviert den Krach, baut Kathedralen der Geräusche auf, um sie mit Lärm einzureißen, aber es kompensiert eben auch den Lärm mit Postrock-Interludien. Es scheint mitunter ganz und gar auf Metal der härtesten Sorte zu setzen, nur um kurz darauf in einem zaghaften Flüstern dahin zu schwelgen, sich in Zeit und Raum zu verlieren, nur um dann doch wieder unheimlich laut zu sein. Not your typical Postrock, aber ein ungemein intensives, immersives Erlebnis. Envy packen auch schon in ihrem Frühwerk und lassen erahnen, dass „Screamo trifft Postrock“ praktisch Traumhochzeit bedeutet.

Leech – Soundtrack to an Individual Emotion Picture Mindmovie

(Liberated Brother Prod. 1998)

Postrock trifft Rock N Roll. Der Titel des Zweitlings der Schweizer Band Leech lässt auf den ersten Blick Schlimmes erahnen. Die Musik auf „Soundtrack to an Individual Emotion Picture Mindmovie“ ist dann aber bei weitem nicht so prätentiös und selbstverliebt, wie dieser vermuten ließe. Leech orientieren sich an saftigem und auch derbem Hard Rock und zersetzen diesen dann mit einer ordentlichen Portion Funk und Lässigkeit. Das persönliche, emotionale Kopfkino lässt hier nicht einen pathetischen, artifiziellen Film ablaufen, sondern viel mehr einen bizarren, ungewöhnlichen, vor allem aber energiegeladenen Exploitationeer, irgendwo zwischen Kunst und Pulp. Dank dem Versatz mit Krautrock, Psychedelica und zappaesken Avantgardemomenten klingt bei „Soundtrack to an Individual Emotion Picture Mindmovie“ immer auch das Augenzwinkern und die Freude am Spiel mit; es will nicht hypnotisieren sondern eben auch Spaß machen, uns ein wenig durch- und wachrütteln, nicht nur Rotwein ausschenken, sondern auch Bier und Long Island Ice Tea. Definitiv die erste Wahl für die nächste Post-Hippie-Party.

Under Byen – Kyst

(PladeSelskabet Have A Cigar , 1999)

Postrock trifft Trip Hop. Under Byen kommen aus Dänemark und ihre selbstgenannten musikalischen Präferenzen sind kein Zufall: Sigur Rós, Mogwai, Talk Talk lässt es sich von ihnen vernehmen. Gerne noch ergänzt um Björk und Tori Amos. Und wenn man es genau nehmen will, kann man gut und gerne auch noch Portishead mit in den Raum werfen. Auf Kyst präsentiert die Band um Henriette Sennenvaldt verträumte Kompositionen, die dem Folk entsprungen sind, Minimalist Electro und Trip Hop streifen und in letzter Konsequenz doch vor allem eine hypnotische Postrock-Atmosphäre entfalten. Der Song steht nicht im Mittelpunkt, sondern viel mehr die Idee eines großen Ganzen, flankiert von Sennenvaldts mal unheimlicher mal unheimlich schöner Stimme, in die Ferne entfliehend, immer etwas Unantasbares wahrend. So ist ihr Debüt ein wundervoll, mysteriöses Erlebnis; komplett abgehoben und zugleich intim, den Geist herausfordernd und zusätzlich das Herz streichelnd. Postrock als einsame, die Einsamkeit suchende Erfahrung, die den Horizont der Hörenden sowohl sinnlich als auch intellektuell erweitert.

The American Analog Set – Golden Band

(Emperor Jones, 1999)

Postrock trifft Indie Pop. Auf ihrem dritten Album „Golden Band“ experimentieren die Texaner The American Analog Set mit purer, ehrlicher Zurückhaltung, haben gleichzeitig aber nicht die geringste Scheu davor ihre Emotionen vollkommen nackt zu präsentieren. Golden Band ist so etwas wie die schüchterne Seite des Postrocks: Ein Blubbern hier, ein Klackern da, ein Klangkosmos, der sich über alles legt, und irgendwo darin verloren die schüchterne, spärlich eingesetzte Stimme von Andrew Kenny, die stets unsicher zu fragen scheint: „Darf ich auch ein wenig singen? Ist das Okay?“. Im Gegensatz zu anderen Postrockalben stets mit einem Fragezeichen versehen ist Golden Band weniger Hypnose als viel mehr Selbsthypnose, eine persönliche musikalische Traumreise zu der uns The American Analog Set mit einem vorsichtigen „Aber nur wenn ihr wollt“ einladen… Wir reisen gerne mit.

Mogwai – Come On Die Young

(Chemikal Underground, Matador, 1999)

Postrock trifft Poprock. Ich habe es schon mal gesagt und wiederhole mich gern. Eingängiger als bei Mogwai hat sich klassischer Postrock nie präsentiert. Wie auf dem Vorgänger ist auch die Musik auf „Come On Die Young“ wunderbar atmosphärisch, opfert aber nie den Songgedanken komplett. Versetzt von fremdartigen Stimmen ist Album Nummer zwei der Schotten mal zurückhaltend, mal aufbrausend, und ungeheuer gut darin, Stimmungs- und Tempowechsel mit einem virtuosen Pacing in Folge zu stellen. Und so entsteht trotz der Kürze der einzelnen Stücke so etwas wie die Blaupause für Postrock für das 21. Jahrhundert, vielleicht sogar mit der Idee, dass diese Musik – bei all ihrer Andersartigkeit – viele Menschen begeistern und mitreißen könnte. Natürlich sind Mogwai auch hier kein Pop oder Poprock im klassischen Sinne, aber sie verstehen die Wichtigkeit von eingängigen Klängen, wenn es um das Mitreißen eines Publikums geht. Ohne jedes Naserümpfen, ohne jede verquaste Abgehobenheit, und damit auch außerhalb des zeitlichen Kontexts immer noch erfüllend, einfach wahnsinnig gut gealtert.

Yume Bitsu – Giant Surface Music Falling to Earth Like Jewels from the Sky

(Ba Da Bing, 1999)

Postrock trifft sich selbst. Yume Bitsu sind die Traditionalisten des Postrocks, kurz bevor Postrock überhaupt so etwas wie eine Tradition entwickelt hat. Im Gegensatz zu vielen ihrer Nachfolger sind sie dabei aber nie konservativ oder formalistisch. Schon 1998 das Licht der Welt erblickend, 1999 von Ba Da Bing rereleased liegt „Giant Surface Music Falling to Earth Like Jewels from the Sky“ (Kinder, der Titel!) ganz dicht dran an Godspeed You! Black Emperors Debüt F♯ A♯ ∞. Auch hier finden wir sie, die epischen Soundlandschaften, die großen Kompositionen, die instrumental zwar irgendwie von der Rockmusik kommen, diese aber weit hinter sich lassen. Der Begriff der „Musik für einen nicht gedrehten Film“ wird ja bei der Beschreibung von Postrock extrem überstrapaziert, manchmal passt es aber einfach wie die Faust aufs Auge. Die Giant Surface Music ist der Inbegriff von Kopfkinomusik, es geht nicht um Songstrukturen, sondern um Stimmungen, die sich nach und nach aufbauen und damit ein gewaltiges Gesamtepos formen. Komposition um Komposition baut sich die Gesamtkomposition auf, der Songgedanke spielt keine Rolle, was zählt ist die radikale Atmosphäre, die mit allen Stimmungen spielt, die das musikalische Kino ermöglicht. Was für ein großartiger Abgang für das Jahrzehnt, was für ein fantastischer Vorgeschmack auf das, was uns das kommende Jahrtausend an atmosphärischem Postrock darbieten wird.

Bands/Künstler_Innen: Envy, Fridge, Karate, Labradford, Leech, Mogwai, The American Analog Set, Under Byen, Yume Bitsu, | Genres: Avantgarde / Experimental, Electro, Krautrock, Minimal, Noise, Post-Rock, Progressive Metal, Psychedelic, | Jahrzehnt: 1990er,


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