Die besten Avantgarde Metal Alben der 90er Jahre I

Kategorisierungen von Genres sind ohnehin schon schwer genug… und Kategorisierungen von Subgenres erst recht. Ich glaube aber, dass ich mich oft genug bei der Retrospektive der besten Metal-Alben der 90er Jahre für willkürlich scheinende Sortierungen entschuldigt habe, und ich glaube auch, dass ich oft genug gesagt habe, dass jede einzelne dieser Schubladen mit Vorsicht zu genießen ist (was mich nicht davon abhält, das an dieser Stelle noch einmal zu machen). Okay, Avantgarde Metal… definitiv etwas anderes als der klassische Progressive Metal, um den ich mich hier auch noch kümmern werde. Die extreme Spielart der harten Musik bedient sich gleich bei zahllosen avantgardistischen Genres. Je nach Band und Album werden heftige Riffattacken mit Free Jazz, RIO, progressivem Funk, zappaeskem Klängen oder industriellen und mathematischen Soundkonstruktionen ergänzt, zerschnitten und aufgebrochen. Viele der hier genannten könnte man auch als Extreme Metal bezeichnen, als Neo Progressive Metal, als Industrial Metal, als Alternative- oder Uncategorized Metal. Ich bleibe bei der Avantgarde-Schublade, wo sich jetzt unter anderem Meshuggah, Disharmonic Orchestra, Strapping Young Lad und Tool bestens aufgehoben fühlen dürfen. Die erste Ladung der Extremen der Extremen der Extremen folgt nach dem Klick.

Meshuggah – Chaosphere

(Nuclear Blast, 1998)

Chaosphere ist so etwas wie ein beängstigendes, unmenschliches Labor des Extreme Metal… Und Meshuggah sind die ebenso neugierigen wie rücksichtslosen, sadistischen Forscher, die dort ihre perversen Experimente durchziehen. Zwischen kaltem, sterilem, mathematischem Sound und atavistischen Schlachterien erschlägt Chaosphere seine Hörer mit schier unbändigem, nicht zu bändigendem Industrial Progressive Metal, der sich sukzessive in einen aggressiven Rausch hineinsteigert: Elektronische Soundspielereien, Jazz-Ausschlachtungen, achterbahnähnliche Songstrukturen und ein fesselnder Sog, der sich schließlich in ein kaum hörbares Noise-Feuerwerk hineinsteigert. Das ist laut, das ist heftig, das ist alles andere als eingängig… dabei aber derart frei, sich und seine Hörer befreiend, dass am Ende jeder unbarmherzig ergründete musikalische Abgrund gerechtfertigt scheint. Avantgarde Metal, wie er brutaler, strukturalistischer, destruktiver und zugleich animalischer nicht sein könnte.

Tool – Ænima

(Volcano, 1996)

Die Geschichte von Tools Ænima ist auch so etwas wie die Geschichte eines kleinen Missverständnisses. Während die Band auf diesem neo-progressivem Monolithen munter Industrial, Alternative Metal und krude Soundexperimente zu einem apokalyptischen Rausch mixt, der nichts – und am wenigsten sich selbst – ernst nimmt, glaubten viele Hörer im Tool’schen Klangkosmos so etwas wie transzendentale Erlösung zu finden. Irgendwann glaubten es die Kalifornier wohl selbst und veröffentlichten mit dem – ebenfalls grandiosen – Lateralus einen beinahe metaphysischen Nachfolger. Anyway, Ænima ist in seiner grotesken Dunkelheit der kafkaeske Scherzkeks unter den neoprogressiven Alben: Davon zeugen die Albernheiten im Booklet ebenso wie der Bezug auf Bill Hicks,  die obskuren Lyrics und die seltsamen musikalischen Ausbrüche wie die Eier von Satan. Daneben gibt es noch eine Menge dunkler, verworrener und eiskalter Prog-Hymnen, die zwischen Rhythmusmonstern und passionierter Melodik oszillieren. Ein faszinierender Trip in progressive Abgründe, der doch immer von einem verzweifelten und gehässigen Lachen begleitet wird.

Primus – Frizzle Fry

(Caroline, 1990)

Ach Primus… Passen die überhaupt noch zum Metal? Avantgardistisch ist sie jedenfalls zweifellos, diese Mischung aus Funk, Crossover, zappaeskem Wahnsinn und monotonen Rhythmusmonstern. Zugegeben, die klassischen Metal-Riffs tauchen in diesen weniger auf, aber es ist diese aggressive Attitüde, die die verqueren Songs zwischen jazzy Interludes und extremen Dissonanzen, die Primus in dem Avantgarde Metal Genre bestens heimisch sein lässt. Frizzle Fry ist so etwas wie die atonale, entspannte und zugleich clowneske Rhythmusversion von postmodernem Avantgarde Metal. So etwas wie ein Frank Zappa Kettensägenmassaker, das mit creepy Augenzwinkern und zerschossenen Vocals den Metal dahin hebt, wo Headbanging von der Headdestruction abgelöst wird. Fernab jeglicher Standards, selbst in der offenen, experimentierfreudigen Nische der avantgardistischen Metal-Genres.

Strapping Young Lad – City

(Century, 1997)

Während bei Primus Diskussionen erlaubt sind, ist die Sache bei Strapping Young Lad, angeführt vom wahnsinnigen Forscher Devin Townsend, mehr als klar. Das ist Metal, und nichts anderes: Die extreme, industrielle, dunkle Hochgeschwindigkeitsvariante, die Form von Metal vor der uns unsere Eltern immer gewarnt haben und die für ungeschulte Ohren fast schon prototypisch klingen könnte. Tut sie natürlich nicht: Hinter den monströsen High-Speed Gitarrenwänden und unmenschlichen Beat-Attacken türmen sich gigantische Soundlandschaften auf, ein megalomanisches Ambientgefilde, das jeden verschluckt, der hinter die Fassade der aggressiven Riffs blickt, die mit sich selbst tanzen, sich selbst dekonstruieren und destruieren. City ist eine dunkle, epische Offenbarung, ein Manifest für aggressive, kreischende Töne, so etwas wie der Blick durch und hinter die atavistischen Abgründe des Genres, bis hin zum dionysischen Schlund, in dem Befreiung, Schmerz, Traumatisierung und Erlösung so eng beieinander liegen wie nirgendwo sonst.

Dir En Grey – Gauze

(Free-Will, 1999)

Dir en Grey wiederum sind so ein Grenzfall, zumindest auf ihren älteren Alben. Während die harte, am Alternative und Experimental Metal orientierte Ausrichtung auf den 00er Alben außer Frage steht, befindet sich Gauze noch ganz im Geist des Visual Key und J-Rock der 90er Jahre: Da werden klassische, wunderbare, liebreizende und mitunter sogar kitschige J-Pop-Songs aufgebaut und urplötzlich von brutalen Klangeskapaden zertrümmert. Da werden traditionelle Metalgitarren gespielt, nur um von einer clownesken oder theatralischen Atmosphäre geschnitten zu werden, da wird im Pathos gebadet und plötzlich mit der Musik gespielt, als wäre die Apokalypse eine große Nummernrevue. So richtig zu greifen ist das nie in seinem verwegenen Kreuzüber von Pop, Rock, Metal, Klassik und was sonst noch allem… und genau deswegen so verdammt gut, immer überraschend, immer bewegend, und immer wieder mit tonalen und atonalen Störfeuern irritierend, verstörend und vor allem auch verzückend.

Godflesh – Pure

(Earache, 1992)

Okay, okay, zugegeben, eigentlich hätte ich auch gleich einen eigenen Industrial Metal Artikel aufmachen können, anstatt die Bands dieser Nische beim Thrash, Groove-, und Avantgarde Metal einzuordnen. Godflesh sind aber definitiv mehr als die netten Industrial Brüder von nebenan. Gleichwohl inspiriert von düsteren Electronica, Breakbeats und Crossover-Eskapaden hat Pure gar nichts, aber wirklich so absolut gar nichts mit Manson, Nine Inch Nails oder Korn gemein. Stattdessen fluten Godflesh die Boxen mit einem zentnerschweren Bastard aus Sludge, Postrock, Grindcore und Death Metal, der sich eben so atmosphärisch wie destruktiv, eben so transzendental wie blutdurstig gibt. Pure ist ein dunkles und apokalyptisches Post-Metal Statement, ein in sich verzweifeltes, an sich verzweifelndes Höllenfeuer, das sich nie zu schade ist den Flirt mit anderen Genres zwischen Rock, Blues und Electro einzugehen. Unbedingt auch die anderen Alben der Band auschecken, die eine faszinierende Entwicklung hin zu immer trendigeren Tönen durchmachte, aber nie mehr so gewaltig und inspiriert klingen sollte wie auf dem 92er Meisterwerk.

Disharmonic Orchestra – Not to be Undimensional Conscious

(Nuclear Blast, 1992)

Und noch ein Beispiel von frühem 90er Crossover Metal, der weit entfernt ist vom damals potentiell charttauglichen Kreuzüber aus Rock und Black Music. Auch Disharmonic Orchestra mixen und frischen ihre heftigen Metal-Attacken mit Hip Hop und Breakbeats auf und klingen dabei nicht im Mindesten nach Clawfinger, Korn und Konsorten. Stattdessen ist Not to be Undimensional Conscious ein einziges, brutales Grindcore-Schlachtfest, ein Metal-Massaker zwischen Zorn, Hass, und dämonischen Dekonstruktionen. Man schwitzt, man blutet, man schreit und kämpft… und dann ganz plötzlich brechen Breakbeats in das Geschehen ein, es wird gerappt, der Funk blinzelt um die Ecke, um im nächsten Moment auch schon wieder zerschmettert zu werden. Disharmonic Orchestra klingen dabei fast wie die Quintessenz von Inkonsistenz,  innerer Widersprüchlichkeit und Heterogenität. Aber Hölle, es funktioniert, saugt dich auf, saugt dich aus, reißt dich mit und lässt einen einzigen Soundtrümmerhaufen zurück. Disharmonische Höllenklänge für ein himmlisches musikalisches, antimusikalisches Vergnügen.

Bands/Künstler_Innen: Dir En Grey, Disharmonic Orchestra, Godflesh, Meshuggah, Primus, Strapping Young Lad, Tool, | Genres: Avantgarde / Experimental, Metal, Progressive Metal, | Jahrzehnt: 1990er,


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