Hörenswertes Juli 2011: Boris, John Tejada, Jakko Jakszyk, Robert Fripp & Mel Collins (A King Crimson ProjeKct)

Ja Freunde… es ist Sommer. Das Wetter beschissen, der Urlaub in weiter Ferne, die Stimmung trübe, und wir hinken Dank schreiberischem Sommerloch in unserer Hörenswert-Section mal wieder um einen ganzen Monat zurück… Doch es naht Erlösung, in Form von experimentellen, düsteren, verlockend avantgardistischen und vor allem ‚ähmmm‘ progressiven Klängen. So rocken sich Boris zuerst durch einen klassisch progressiven Avantgarde/Drone/Metal-Whatever-Kosmos, um kurz darauf die progressiven Töne in geheimnisumwitterten progressiven Ambient-Klängen zu finden. John Tejada entdeckt das progressive Element in minimalistischen Electro-Sounds, während Robert Fripp in seinem King Crimson ProjecKt zusammen mit Jakko Jakszyk und Mel Collins das Progressive in, nunja, klassischem Progressive Rock auslotet. Wenn’s schon nichts zu Feiern gibt, dann wenigstens genug satte, verwobene Klänge, um andächtig vor den Lautsprechern zu knien. Und der Sommer wird ohnehin komplett überbewertet…

Boris – Heavy Rocks

(Cargo, 17.6.2011)

Hallo Postcore! Hallo Punk! Hallo Drone und Hallo Regress. Zusammen mit „Attention Please“ (s.u.) bildet Heavy Rocks so etwas wie einen 2011er Zwillingsbastard der japanischen Avantgarde-Rocker Boris und führt im Gegensatz zu den dunklen Ambient-Klängen, die um Achtung bitten, direkt hinein in die Urzeiten des Genres. Ob Heavy Rocks eine Verbeugung vor den Wurzeln oder schlicht und einfach eine konservative Dampfwalze ist? …Unerheblich. Jedenfalls schneidet dieses düstere und raue Metalwerk direkt hinein ins Fleisch seiner Hörer. Egal ob im pathetischen Doom-Metal-Gewand oder im staubtrockenen Drone-Gewitter, das mit seiner Punk- und Metal-Attitüde bis zurück zu Black Sabbath weist, Boris sind wütend, dunkel und sie fletschen aus der Dunkelheit mit ihren Zähnen.

Heavy Rocks ist im besten Sinne das, was man als unsubtil bezeichnen könnte: Die Gitarrenwände sind fett und unerbittlich, die Vocals scheinen direkt aus dem Fegefeuer entsprungen und zwischen High Speed Attacken und schleppenden Doom-Entwurzelungen ist doch immer dichtes Noisegewitter omnipräsent. Boris experimentieren sich zwischen Thrash, Punk, Core und Drone-Minimalismus nach vorne, legen trotz eines gewagten Genreüberschlags, inklusive zahlloser eklektischer Versatzstücke, ein erfrischend straightes, stilbewusstes, traditionsbewusstes und in sich äußerst stimmiges Album vor und trompeten mit diesem zum Avantgarde Metal Angriff. Damit gewinnen sie zwar keine Innovationspunkte, generieren aber genau die passende, wütende Mischung zu dem beschissenen Regenwetter, das derzeit draußen tobt. Einmal in die Hölle und zurück, ein kleines Wegstück mit der Achterbahn genommen, den Rest zu Fuß den zermarterten Körper nach vorne geschleppt. Garstig, bitter, vulgär… eine Offenbarung.

Boris – Attention Please

(Cargo, 17.6.2011)

Und plötzlich heißt es „Hölle, lebe wohl! Drone, lebe wohl! Metal, lebe wohl!“ Zeitgleich mit dem garstigen, staubigen Doom/Drone/Postcore-Bastard „Heavy Rocks“ veröffentlichen Boris das anschmiegsame „Attention Please“, machen damit vieles anders und zugleich fast alles richtig. Wo auf Heavy Rocks der klassische, dunkel-pathetische und zugleich fragmentarisch emotionslose Doom kolportiert wird, dem die Band seit mittlerweile sechzehn Jahren seine Hörer verwöhnt und bei der Stange hält, flirtet Attention Please heftig mit Pop, Ambient, Noise Rock und Shoegaze… und klingt dabei nicht nur äußerst mutig, sondern auch ungemein frisch und anziehend. Die POPisierung des Boris’schen Sound hat keineswegs den befürchteten Weg in die Arty Esopop-Falle zur Folge, sondern initiiert seinen ganz eigenen dunkel-mysteriösen, verwobenen Klangritus.

Dieser wird getragen von dichten Ambient-Soundwänden, die ein ums andere Mal dem Postrock entfläuchen und ihr Heil in sanften Popmelodien suchen, begleitet von der düster-erotischen Stimme von Gitarristin Wata. Klingt ein wenig als würden Sigur Ros sich in Rock N Roll Sphären verirren, erinnert mitunter in seinem Oszillieren zwischen Noise Pop und Ambient Rock an Sonic Youth’sche Ausflüge der 90er und 00er Jahre und findet dann doch immer ein ums andere Mal zu schlichter Schönheit zurück. Klar, ein bisschen Shoegaze und Dream Pop darf hier auch mitspielen, Epigonie ist aber so gut wie nie heraus zu hören. Dann schon eher eine fragile Introspektion, ein Fürchten, Schwelgen, Raunen in der Dunkelheit, postapokaylptisches Taumeln und transzendierter Blümchensex. Klingt kitschig und abgehoben? Ist es auch ein bisschen, aber zugleich eben auch mit eines der spannendsten Experimente, die man im Drone-Bereich in den letzten Jahren hören durfte und zudem ein Boris-Werk, das ein tatsächliches Alleinstellungsmerkmal aufweist. Im Vergleich zum traditionellen Heavy Rocks gebe ich Attention Please – wegen seines musikalischen Mutes – den Vorzug.

John Tejada – Parabolas

(Kompakt, 20.6.2011)

Achja… John Tejada, Österreichs Aushängeschild für intelligente, minimalistische Electronica zwischen Pop und Avantgarde. Auch auf seinem mittlerweile elften Album fasziniert der Wiener Produzent mit einer hypnotischen Mischung aus Bescheidenheit und wagtemutigen Electro Pop Ohrwürmern. Die Rezeptur mit der dies geschieht ist wagemutiger als sie auf den ersten Klang vermuten lässt. Tejada konstruiert sanfte, charismatische Minimal Electro Stücke, strukturiert sie, verwebt sie, lässt sie immer wieder in sich selbst verlieren, um dann den Dancefloor für sich zu erobern. Flankiert werden die subtilen, zurückhaltenden technoiden Filigranitäten von satten Beats, die im klassischen House-Rhythmus nach vorne preschen. Und dann, ja dann kommt der Pop hinzu: Melodien schmiegen sich in die Gehörgänge des Hörers, sanfte Harmonien werden gesponnen und umgarnen das Herz der mittlerweile längst tanzenden Massen.

Das vergoldete Ergebnis ist eine ebenso sanfte wie berauschende Mischung aus Pop und Avantgarde und Dank ordentlichem Rückgriff auf traditionelle analoge Sequencer ungemein lebendig pulsierend und organisch. John Tejada gelingt nämlich – neben der Kombination aus  Avantgarde, Understatement, Techno-Hysterie und Pop – auch die Rückkehr zum Fleisch, zum Handwerk und zum Vitalistischen. In seinem eklektischen Soundkosmos beseelt er synthetische, technoide Klänge, haucht toten Soundfragmenten Leben ein und verhilft ihnen zur körperlichen, unmittelbaren Erfahrbarkeit. Parabolas ist ein Mensch-Maschinen-Mensch, ein humanoides Gebilde, dass über den Weg des Synthetischen, Mechanischen, Elektronischen zurück zum organischen Songkörper findet. Electronica, die sich besinnen, beseelen und eine Aura ausstrahlen, die weit über klassischen Experimental, Minimal und Techno hinausgeht. Neben der von Nicolas Jaar eine der spannendsten Electro-Veröffentlichungen des Jahres.

Jakszyk, Fripps & Collins – A Scarcity of Miracles

(DCM, 30.5.2011)

Nee, das klingt nicht wie King Crimson. – Doch da jetzt! Jetzt habe ich was gehört. – Was? – Na diese Prog-Melodie, da jetzt, ja… genau, hier. – Ach Quatsch, maximal AOR in der Fripp’schen Form. Vielleicht ein bisschen Hard Rock. – … Hard Rock? – Ja! Und ordentlich Pathos. 80’s eben. – 80’s? – Na auf jeden Fall nicht die klassischen, rhythmischen Vexierspiele, für die wir King Crimson so geliebt haben. – Aber gar nicht so weit weg von deren 90er Taten – Naja, da hatten sie zumindest klassischen Progressive mit Neo Progressive versöhnt. Aber das hier ist irgendwie… – Wie was? – Als wären King Crimson den selben Weg wie Genesis oder Pink Floyd in den 80ern gegangen… – Bitte!? – Hin zur klebrig, schwülstigen und spießigen Erwachsenenmusik. – Hey, jetzt wirst du aber ziemlich ungerecht! – Ja, ich weiß. Und Adult orientaded Rock kann ja auch recht satt klingen. – Und immerhin sind auch hier wunderbar verspielte Progmelodien zu finden, auch wenns all zu oft kitschig wird. Und Jakko Jakszyk ist ja auch so etwas wie ein Prog-Urgestein, und wenn der mit Mastermind Robert Fripps kollaboriert… –

…sollte man was besseres erwarten dürfen. – Da hast du Recht. Vor allem wenn auch noch Mel Collins dabei ist. – Und wenn sie sich auch noch ganz offensiv „A King Crimson ProjeKct“ nennen. – Aber es funktioniert doch schon einiges auf dem Album – Auf Melodieebene definitiv. Aber wo sind die genialen Progressive Rock Rhythmen? – Das ist halt was anderes. Immerhin sind die 70er längst vorbei. – Aber zukunftsweisend ist diese Mischung aus Fusion, Prog und AOR auch nicht gerade. – Aber immerhin sauber gespielt und mit viel Leidenschaft aufgenommen. – Ist das die neue Progressive Rock Spießigkeit? – Maybe, aber tausendmal besser als so manche vermeintlichen Neo Progger. – Das stimmt. – Fans werden auch zufrieden sein – Ja, außer solche wie ich. – Denen man es aber auch nie recht machen kann. – Richtig! – Richtig! – Lust auf ne weitere Scarcity of Miracles Session? – Nee, lass mal. Ich lege lieber die Red oder die Islands von King Crimson ein. Die bringen das Ganze in richtig genial… und nicht einfach nur nett – Okay, nichts dagegen. Spaß gemacht hat das jetzt trotzdem, oder. – Joa, aber… – …Ich weiß, du hast mehr erwartet. – So ist es.

Bands/Künstler_Innen: Boris, John Tejada, King Crimson, Mel Collins, Robert Fripp, | Genres: Avantgarde / Experimental, Doom Metal, Electro, Metal, Minimal, Post-Rock, Progressive Rock, | Jahrzehnt: 2010er,


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