Die besten Noise Rock Alben der 90er Jahre II

Einen kleinen Krachnachschlag hätte ich noch. Wie schon in der ersten Bestenliste gibt es an dieser Stelle noch einmal – wie es sich für das Genre gehört, unsortiert – eine bunte Mischung von Noise Rock Alben aus den 90er Jahren. Mal experimentell, mal verspielt, mal am Metal und Chaoscore, mal am Pop kratzend, aber immer schön laut und überdreht.

Sonic Youth – Experimental Jet Set, Trash and No Star

(DGC, 1994)

Mit Dirty durften Sonic Youth im Zuge des Grunge-Hypes für einen ganz kurzen Moment an den Verlockungen des Mainstreams schnuppern, sowohl aufmerksamkeitstechnisch als auch musikalisch. Das mag dann manchen Fans der alten Schule zu viel Alternative Rock gewesen sein, vielleicht auch Thurston Moore und Kim Gordon selbst. Mit „Experimental Jet Set, Trash and No Star“ (Alter, was ein Titel!) melden sie sich nämlich 1994 mit einem Album zurück, das sich sowohl auf ihre früheren, spröden und minimalistischen Noise-Werke bezieht, als auch heftig mit experimenteller und avantgardistischer Musik flirtet. Das Faszinierende an Sonic Youth ist ja, dass sie es immer schaffen, das Tanzbare und den Pop auf unerhörte Weise mit dem Krach und dem Experiment zu kreuzen. In ihrer 1994er Gestalt machen sie das vielleicht so radikal wie nie zuvor. Praktisch nahtlos oszilliert das Album zwischen minimalistischer Melancholie, rockiger Eleganz und wüstem, verstörenden Krach, gibt sich mal gefühlvoll, mal sexy, mal unnahbar und spröde. Das ist in dieser Kombination einfach einzigartig, wundervoll konsequent inkonsequent und verdammt rund und stimmig. Daydream Nation mag in Feuilletonkreisen als Meisterwerk der Band gelten, und Dirty mag ihr erfolgreichstes Projekt sein… mein Herz gehört dennoch diesem 94er Befreiungsschlag, der zu den spannendsten Werken von Sonic Youth generell gehört, ja, vielleicht sogar ihre beste LP ist.

Today Is The Day – Supernova

(Amphetamine Reptile, 1993)

Kleines Gedankenexperiment: Stellt euch die Melvins vor, nur noch in ein bisschen irrer… Zu schwer? Okay, wie wäre es mit: Stellt euch vor, jemand stattet der Hölle einen Besuch ab, hört die Schreie der Gequälten und Gepeinigten und denkt sich: „Heh, diese Geräusche lassen sich doch gut zu Musik verarbeiten.“ Klingt bekannt? Jepp, Today Is The Day spielen bereits in den frühen 90ern einen Sound, der einige Zeit später im Mathcore – gerne auch Chaos Core – oder Djent aufgehen wird. Supernova ist loud as fuck, extrem räudig und oft auch unangenehm bis zur Unhörbarkeit. Und es macht soooo viel Freude, diesem apokalyptischen Treiben zu lauschen. Bass, Gitarren und Drum überschlagen sich und befinden sich im ständigen Widerstreit mit den höllischen Schreieskapaden von Steve Austin (nee, nicht die Rattlesnake aus der WWE). Irgendwo zwischen Noise, Avantgarde und Sludge Metal ist Supernova ein musikalisches Erlebnis, das durchgestanden werden will. Nur die Harten kommen in den Garten, oder in den Noise Himmel; wer diesen Weg auf sich nimmt, wird aber belohnt mit einer wunderbar kathartischen Darbietung, mit einer unvergleichlichen Erfahrung, die den Weg ebnet für Bands wie The Dillinger Escape Plan und Co. und lange im Gedächtnis bleibt.

Cows – Cunning Stunts

(Amphetamine Reptile, 1992)

Es startet mit einem Klaps und Babygeschrei… und das ist schon einmal ein guter Hinweis darauf, wohin die Reise gehen wird. Auf Cunning Stunts, dem immerhin fünften Album der Cows, erleben wir eine wüste Mischung aus derbem Krach und improvisiertem Avantgarde Rock, der keine Gefangenen macht. Wie die Melvins und Today Is The Day sind die Cows auf Amphetamine Reptile unterwegs, in den frühen 90ern anscheinend die perfekte Adresse für laute und irre Töne. Zerfleddert von bluesigen Gitarren, Horn-Sections und vor allem Shannon Selbergs vom Rausch zerfetzte Stimme, die uns durch das musikalische Chaos nach vorne schreit, ist Cunning Stunts wie eine musikalische Achterbahnfahrt durch Punk, Noise, Rock und Metal. Wie eine solche scheint auch diese LP ein viel zu kurzes Erlebnis zu sein, nicht nur wegen seiner kurzen Gesamtlänge (das auch), nicht nur wegen seiner kurzen Songs (das auch), sondern vor allem wegen der extremen Kurzweiligkeit die dieser Rock/Blues/Noise/Jazz Bastard mit sich bringt. Die Cows denken gar nicht erst daran, eine Atmosphäre aufzubauen, stattdessen rocken sie einfach alles weg, was in die Tiefe gehen könnte, reißen dich an der Oberfläche mit puren Rock N Roll Eskapaden hin und her, schütteln dich durch und rasieren dir den Schädel. Und kaum hat man Zeit Luft zu holen, ist das Erlebnis auch schon wieder vorbei. Großartiger Krach für die schnelle Fahrt durch die Rauschlandschaft.

Dazzling Killmen – Face of Collapse

(Skin Graft, 1994)

Bei Amphetamine Reptile würden sich die Dazzling Killmen auch ziemlich wohlfühlen. Wem Today Is The Day noch nicht genug Hölle gegeben haben, der muss dann einfach zu „Face of Collapse“ greifen. Auch hier finden wir eine Form von Noise Core, die versehen mit sehr vielen Avantgarde, Prog und Experimental oft wie Proto-Mathcore daherkommt. Im Gegensatz zu den Cows sind Dazzling Killmen aber nicht einfach nur schnell, und im Gegensatz zu Today Is The Day sind sie nicht einfach nur laut und höllisch. Stattdessen geht es hier auch immer um das Erschrecken mit Gegensätzen und das Auftrumpfen mit dem Unerwarteten. Face of Collapse ist Stop and Go in Musik gegossen, Es wird Gas gegeben und es wird abrupt abgebremst. Extrem langsame, fast schon doomige Passagen werden geschnitten von superschnellen Punk-Interludien, mathematische Präzision wird von scheinbar improvisiertem Spiel in die Mangel genommen, plötzlich ist es komplett still, nur um die anschließende Härte umso krasser erscheinen zu lassen. Face of Collapse ist ganz nah dran am Djent, nur eben ohne Metal zu sein; wie schon die beiden vorherigen Alben alles andere als leicht bekömmlich, im wahrsten Sinne des Wortes anstrengend und schmerzhaft. Aber eben auch ziemlich immersiv, auf eine bizarre Art und Weise bewegend und dich am Ende extrem zufrieden zurücklassend. Ohren durchgespült, Gehirn frei… genau dafür sollte guter Noise Rock da sein.

Godheadsilo – The Scientific Supercake L.P.

(Kill Rock Stars, 1994)

Beim Blick auf die Besetzung kommt dann doch zwangsläufig der Gedanke auf: „Was, die sind wirklich nur zu zweit?“. Auf ihrem Debüt „The Scientific Supercake L.P.“ spielen Dan Haugh und Mike Kunka als Godheadsilo eine extrem dreckig abgemischte Lo-Fi-Variante von übervollem Noise Rock und klingen eben trotz der sparsamen Besetzung, trotz der rohen Produktion unfassbar dicht und geschlossen. The Scientific Supercake hat in sich etwas Beschwörend Sakrales, fast schon Spirituelles. Trotz der Albernheiten – die in die Songs rein- und zwischen ihnen aufgeworfen werden, besitzt dieses Album einen ätherischen Kern, wirkt irgendwie enthoben, metaphysisch, das aber ausgedrückt im konsequenten Krach. Quasi ein Noise-Gottesdienst. Alles wirkt fern, so als käme es nicht von dieser Welt, hätte aber genug Kraft, um uns als Zuhörer ordentlich mit Dreck zu bewerfen. Ein merkwürdig entschwebtes Noise-Monstrum, nie so ganz zu fassen, aber in seiner konsequenten Art schlicht und ergreifend ein Krach-Meisterwerk.

Boredoms – Chocolate Synthesizer

(WEA Japan, 1994)

Ach ja, wir verdorbenen Westeuropäer und Amerikaner, glauben wir hätten die musikalische Innovation für uns gepachtet. Die Boredoms kommen aus Japan, sind seit den späten 80ern unterwegs, und produzieren seitdem gehobenen Krach, der sich immer an der Schwelle diverser Genres befindet. „Ist das überhaupt noch Noise Rock?“ darf man da durchaus fragen, kommt „Chocolate Synthesizer“ doch oft als reiner Noise oder experimentelle Samplekunst daher. Es gibt aber auch hier die rockigen, rhythmischen Momente zu entdecken, ja sogar ein bisschen Punkrock (inklusive „Anarchy in the UKK“. Kein Schreibfehler), ein bisschen Funk, ein bisschen Gejamme, das auch auf ein Hippiefestival passen würde… und doch ordnet sich alles dem scheinbar konzeptlosen Gesamtkonzept unter: Klang und Experiment, Geräusch und Aufbruch, Zerstückelung und Neuzusammensetzung. Das ist definitiv keine Musik für die Massen, und für die meisten – mich eingeschlossen – nur in kleinen Portionen genießbar. Dann offenbaren Boredoms aber in all ihrem Wahnwitz auch all ihre Genialität, ihr Gespür für Besonderheiten und Abwegigkeiten und Musik, die mehr Antimusik ist und trotz aller Unerhörtheit nicht ungehört bleiben sollte.

Einstürzende Neubauten – Ende Neu

(Mute, 1996)

Auch bei den Einstürzenden Neubauten darf die Frage gestellt werden, ob wir hier überhaupt noch Noise Rock vor uns haben. Vielleicht doch eher irgendeine Form von postmoderner Avantgardemusik? Vielleicht Industrial? Vielleicht Experimental? Ja, ja, ja… und doch haben Blixa Bargeld und seine Leute von Anfang an auch immer den Krach mit im Gepäck. Auf den Alben ab Mitte der 90er Jahre vielleicht etwas weniger, aber doch immer noch als integralen Bestandteil der Musik. Wie sein Vorgänger und sein Nachfolger macht „Ende Neu“ etwas ganz erstaunliches mit dem Krach: Es bekämpft ihn mit Stille. Und es lässt Stille selbst auf eine merkwürdige Weise zu Lärm werden. Wenn es eine Band gibt, die Lautstärke erzeugt, indem sie auf Lautstärke verzichtet, dann sind es die Neubauten. Es steckt immer etwas Brodelndes, kurz vor dem Ausbruch Stehendes im teils minimalistischen, teils makaberen, teils vollen Industrialsound auf Ende Neu. Flankiert von Blixa Bargelds enorm verführerischen Stimme, geleitet von abstrakten, poetischen Texten, mal rockiger, meist elektronischer, mal tanzbar, meist aber primär verstörend und entfremdend. Ende Neu ist ein düsterer beängstigender Hybrid aus Geräusch, Musik und Stille; mit Sicherheit nicht Noise Rock in Reinkultur, aber die bestmögliche elektronisch experimentelle Musik für alle Noise Rock Anhänger. Und ein Wahnsinns Exempel dafür, wie laut Stille sein kann.

…And You Will Know Us by the Trail of Dead – Madonna

(Merge, 1999)

Weniger um die krachige und experimentelle als viel mehr die rock and rollige und elegische Seite des Noise Rock kümmern sich …And You Will Know Us by the Trail of Dead. Auf ihrem zweiten Album klingt ihnen dieser Spagat womöglich am besten. Auf einem Fundament laut krachenden Noise Rocks bauen sie ein elegisches Klanggebäude, das dem Punk ebenso huldigt wie dem Indie Rock, dem Pop und nicht zuletzt auch hymnischem Progressive. Madonna ist eine Wundertüte voll mit fantastischen, für das Genre ungewöhnlich eingängigen Songs, die ihre Stärke mal aus der Geschwindigkeit, mal aus ihrer Catchyness und Mal aus ihrer überbordernden Atmosphäre ziehen. It’s just pure Rock N Roll denkt man da manchmal, nur um sich kurz darauf entführt zu sehen in ganz außergewöhnlich, atmosphärisch extrem dichte Lautlandschaften. Im Zentrum steht nicht der einzelne Song sondern das Gesamterlebnis, der Rausch und die Dichte. Alles fließt ineinander und erzeugt ein extrem einnehmendes musikalisches Erlebnis. Später sollten …And You Will Know Us by the Trail of Dead noch weitaus konzeptueller, progressiver aber auch Pop-affiner werden. Auch hier nachzulesen in der Retrospektive ihres Gesamtwerkes der 90er und 2000er Jahre.

Brainiac – Bonsai Superstar

(Grass Records, 1994)

Im ganzen Noise Rock Geflecht fallen Brainiac am ehesten in die Ecke von den Butthole Surfers, und mit denen wiederum spielen sie definitiv in einer Liga. Ihr zweites Album „Bonsai Superstar“ ist ein wilder Mix aus Rock N Roll Spinnereien, Zirkusattraktion und Freak Show, mit einer Menge Krach, der aber nie zum Selbstzweck verkommt, sondern stattdessen dem größeren Gedanken dient. Und dieser größere Gedanke ist in diesem speziellen Fall: Chaos stiften! Mit viel Spaß, mit einem fetten Augenzwinkern, mitunter sogar tanzbar… aber doch immer schön chaotisch. So trägt das gesamte Album eine hedoniostische Punkrock-Attitüde, bei allen experimentellen Störgeräuschen wird es nie vergessen, auch einfach mal ordentlich nach vorne zu rocken. Gott sei Dank nehmen sich Brainiac bei alledem nie zu ernst. Bonsai Superstar ist ein fantastischer Noise Rock Entwurf, der mit seinem Sarkasmus und seiner Verspieltheit perfekt in die Mitte der 90er Jahre passt, aber auch heute noch extrem hörenswert ist.

Free Kitten – Sentimental Education

(Kill Rock Stars, 1997)

Und dann zum Abschluss noch einmal die bestmögliche und weitestmögliche Annäherung des Noise Rock an den Pop. 1993 gründen Kim Gordon von Sonic Youth und Julia Cafritz von Pussy Galore die Superband Free Kitten, die neben ihnen auch Vertreter der Boredoms und von Pavement ein zu Hause gibt und genau so klingt, wie man sich eine solche Zusammenstellung vorstellt: Von Pussy Galore wird das Punk und Garage Rock Momentum entliehen, von Sonic Youth kommt die Experimentierfreude, von den Boredoms der Krach und von Pavement der Indie Charme. Das Ergebnis dieser Frankensteinarbeit ist ein großartiger Mix aus den genannten Stilmitteln, mal spröde im Lo-Fi-Bereich, mal pittoresk, süß und poppig, mal laut und derb. Das zweite Album „Sentimental Education“ perfektioniert diese sympathische Mischung, hat keine Angst vor smarten Indie Pop Momenten, aber auch keine Angst vor nervenaufreibenden Loops und Boxen zertrümmernden Feedbacks. Ein fantastischer Hybrid, vielleicht auch ein wenig Noise Rock für Menschen, die sonst keinen Noise Rock mögen, definitiv aber Pflichtprogramm für alle Fans der vertretenen Bands.

Bands/Künstler_Innen: ...And You Will Know Us by the Trail of Dead, Boredoms, Brainiac, Cows, Dazzling Killmen, Einstürzende Neubauten, Free Kitten, Godheadsilo, Sonic Youth, Today Is The Day, | Genres: Alternative Rock, Avantgarde / Experimental, Noise, Noise-Rock, Rock, | Jahrzehnt: 1990er,


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