Die besten Britpop-Alben der 90er Jahre II: Die Schwergewichte
There we are! Peak Britpop! Battle of the Bands. Oasis vs. Blur. Kein musikalischer (vielleicht auch persönlicher) Konflikt hat die 90er Jahre Musiklandschaft derart geprägt wie der epochale Zweikampf zwischen Blur und Oasis. Dabei ging es beim „British Heavyweight Championship“ (NME) letzten Endes vor allem um eine Absprache unter Musikpublishern, die sich erhofften, dadurch die Käufe anzukurbeln (interessant nachzulesen in einm SPIEGEL-Artikel aus dem Jahr 2020). Und ohnehin viel spannender als der ganze Gossip ist die Musik, die in seinem Kontext veröffentlicht wurde. Und die hat es wirklich in sich. Zwei Jahre in Folge haben Oasis zwei der wohl besten britischen Alben gegen Ende des Jahrhunderts rausgehauen. Blur haben mit Parklife ein definitives Meisterwerk des Genres veröffentlicht, und mit Suede, Radiohead und Pulp spielen noch andere Schwergewichte in dieser Zeit eine große Rolle. Um diese großen Bands soll es in dieser Bestenliste gehen, während wir uns in Teil 3 den etwas obskureren oder gar ganz und gar vergessenen Bands widmen. Also dann. There we are: Rule Britannia, Britannia, rule the waves!
Suede – Dog Man Star
(Nude, 1994)
Bei dem großen Kampf der Rockschwergewichte könnte man leicht Gefahr laufen, Suede zu übersehen… wurden sie damals auch ein wenig, was wohl die größte Ungerechtigkeit des Britpop überhaupt darstellt. Denn das zweite Album der Londoner „Dog Man Star“ erweitert die Qualitäten ihres sexuell aufgeladenen Debüts um eine Menge Eklektizismus, Schwelgereien und viel Kunst. Prätentiös wurde es folgerichtig von nicht wenigen verschimpft. Nachvollziehbar, ist es doch ziemlich artsy, überladen und pittoresk. Aber genau das macht auch die Größe dieses Werkes aus, dass deutlich weniger testosteronprotzend als die rockende Konkurrenz daherkommt. Dog Man Star macht nicht auf dicke Hose sondern dicken Kopf und dickes Herz, ist symphonisch, verspielt, episch und albern, höchst artifiziell und zugleich doch ehrlich und authentisch. Mit einer Stimmung, die im wahrsten Sinne des Wortes zum Niederknien ist, irgendwie sakral in seinem Größenwahn, der doch so ganz anders als der Größenwahn, den Oasis kultivieren sollten. Retrospektiv ist das Album doch noch zu der Aufmerksamkeit gekommen, die es verdient hat und ziert mittlerweile zahllose Best-of British 90s Listen, mitunter ganz oben. Und ganz ehrlich, nirgendwo anders gehört dieses Meisterwerk hin
Oasis – Definitely Maybe
(Creation, 1994)
Also dann, Let’s get ready to rumble! Der erste große Wurf des „Battle of Britpop“, und wenn man nicht abgelenkt ist von all dem Gossip, der damals bereits um die Gallagher-Brüder kursierte, kommt man auch ziemlich schnell auf den Trichter, was für ein fantastisches Album deren Debüt „Definitely Maybe“ darstellt. Im Kontrast zu seinem voller Ambiguität steckenden Titel könnte das Album in seinem Statement nicht direkter sein: Es geht gegen das nervöse, melancholische und unsichere Momentum des Grunge, es geht gegen das verkopft Akademische der britischen Konkurrenz, es geht gegen die Negativität und Zerstörungswut des Metals. Oasis geht es vor allem darum, ein Gegenentwurf zu einem vermeintlich düsteren und nachdenklichen Zeitgeist zu sein: „It’s just rock n roll!“ im ganz klassischen Sinne, was aber nicht bedeutet, dass sich hier mit Spiel zurückgehalten wird. Schicht um Schicht bauen sich die rockigen Hymnen dieses Rock N Roll Gottesdienstes auf, mal mit Melancholie umflossen, mal mit purer Freude und Lust flirtend, mal mit Dicker Hose, laut und protzig. „Definitely Maybe“ ist in Musik gegossener Vitalismus, ein unfassbar lebendiges, berauschendes Werk und vollkommen zurecht Musikgeschichte.
Blur – Parklife
(Parlophone, 1994)
Lebendig… das ist das dritte Studioalbum von Blur auch, und wird wohl ewig in den Geschichtsbüchern stehen als direkter Konkurrenz zu Oasis‘ Definitely Maybe. Dabei könnten die beiden Alben abgesehen von ihrem Vitalismus nicht unterschiedlicher sein. Parklife ist albern, verspielt, hat den Schalk im Nacken und ein bittersüßes Grinsen auf den Lippen. Wo sich bei Oasis die Lebensfreude in der Suche nach dem großen Eigenen äußert, sucht Parklife am ehesten nach dem großen Anderen: In pittoresken Geschichten, im Rückgriff auf die Musiklandschaft der 60er, 70er und 80er Jahre, und im Verweben der Einflüsse in einem postmodernen, höchst ironischen Setting. Parklife ist Spaß am Leben, ist bräsiger Swing, ist launiger Ska, ist artifizieller Pop, ist abgehangener Beat und alberner Rock N Roll. Dabei scheinen sich Blur nie allzu ernst zu nehmen, Ansätze von Epischem und Hymnischen werden zerstückelt unter fragmentierten Witzen, Pathos wird mit Infantilität zurückgeschlagen, und über allem wabert diese ungeheure Energie und Lebendigkeit. Parklife ist wie ein anarchischer Gegenentwurf zum großen Rock, der ironischerweise natürlich genau dadurch selbst extrem groß wird.
Radiohead – The Bends
(Parlophone, 1995)
Radiohead waren schon immer irgendwie Außenseiter in der britischen Rockszene. Später natürlich auch Helden, bis zum Göttlichen überstilisierte Avantgardeikonen, Art-Pop mit dem sich jeder gerne schmückt… und eben doch auch, trotz aller Bewunderung Außenseiter. Nachdem sie auf ihrem Debüt Pablo Honey deutlich mehr nach amerikanischem Indie als nach britischem Rock geklungen haben, dürfte The Bends ihr britpoppigstes Werk überhaupt sein. Nicht wenig erinnert hier an Suede: Der bizarre Pathos, der verzweifelte Vitalismus, das leicht schräg Hymnische. The Bends ist aber auch anders, artifizieller, verwobener, surrealer. Auch wenn es zu Radioheads eingängigen Werken gehört, ist die Suche nach dem Experiment bereits diesem kleinen Kobold anzusehen: So werden die Gitarren gerne mal schräger, so verschwinden die Songs gerne mal neben der (Ton-)Spur oder lassen sich gleich im Noise hinrichten. Radiohead scheinen immer nach dem perfekten Song zu suchen, nur um ihn danach in einem fiesen Ritual kaputtzuschlagen. Da helfen auch die dazwischengelagerten Harmonien und eingängigen Refrains nichts. The Bends ist in all seinen Pop-Momenten bereits ein sprödes und auch irgendwie gehässiges Werk, eines das nicht nötig zu haben scheint, geliebt zu werden, dies aber umso mehr verdient hat.
Pulp – Different Class
(Island, 1995)
Hier soll es ja um die Schwergewichte gehen… also packen wir sie auch aus. Different Class, von Pitchfork immerhin zum besten Britpop-Album ever gekürt, und an dieser Stelle muss ich einfach mal gestehen: Ich war nie der größte Pulp-Fan. Von allen großen Britpop-Bands könnte ich auf die Kapelle rund um Jarvis Cocker am ehesten verzichten. Sorry. Aber als erklärter Nicht-Pulp-Fan kann ich auch konstatieren, dass wir mit Different Class nicht nur ihr bestes Album vor uns haben, sondern auch ein Meisterwerk des 90er Jahre Britpop. Als Konzeptalbum über das Klassensystem Großbritanniens angelegt ist Different Class dennoch weit davon entfernt, musikalisch sozialen Realismus zu reproduzieren. Viel mehr bewegt es sich ständig in einem fantastischen, neoromantischen Kontext. Different Class scheint mitunter nicht von dieser Welt zu sein, getragen von der verträumten und zugleich immer auch ein wenig obszön klingenden Stimme Cockers, getragen von einer warmen, geradezu herzhaften Atmosphäre ist Different Class trotz seiner Opulenz ein unglaublich intimes Musikerlebnis, trotz seiner Verspieltheit nie distanziert oder zu akademisch. Es dominiert das pure Gefühl, das Herz über dem Verstand, es dominiert die Liebe zum Leben und zum Anderssein: Please understand. We don’t want no trouble. We just want the right to be different. That’s all.
Supergrass – I Should Coco
(Parlophone, 1995)
Auf ihrem Debüt „I Should Coco“ sind Supergrass so etwas wie die Poppunker der Britpop-Szene. Während sich andere Bands des Genres in Opulenz ergießen, ist ihr Sound getrieben von einem räudigen, rohen Garage Sound, irgendwo zwischen Kinks und The Jam. Minimalisten sind sie dennoch keineswegs. Ihre erste LP besitzt unglaublich viel Groove, leiht sich hier und dort auch gerne ein bisschen Swing, ein paar Ska-Rhythmen und Bigband-Vibes. Das klingt dann nicht nur massiv eklektisch sondern auch mordsspaßig, nicht nur nach Nostalgie und Referenz sondern ebenso nach Party und Strandurlaub. Wirklich sonnig ist es, wie man ja traditionell weiß, in good old England nie, I should Coco lässt einen aber fast vermuten, dass Wetter in London würde Regen mal Regen, Nebel mal Nebel sein lassen und sich kurzerhand an Kalifornien orientieren. Damit sind Supergrass auch so ein bisschen die Beach Boys der alten Welt, eben doch ein gutes Stück sonniger, surfiger und auch irgendwie ungekünstelt lebensfroher als die restliche britische Belegschaft, ohne sich vom Kern des Britpop zu entfernen. Wenn man im Lokalen Anschluss an die weite Welt sucht, kann man nicht richtiger liegen.
Ash – 1977
(Infectious, Home Grown, 1996)
Jetzt habe ich ja schon Supergrass als die Kalifornier des Britpop bezeichnet. Die wahren Amerikaner des Rocks von der Insel sind aber die Nordiren Ash. Auf ihrem Debüt 1977 spielen sie eine ziemlich harte Mischung aus Punkrock, Indie und Alternative und klingen dabei in vielen Momenten deutlich grungiger, noisiger und eben auch amerikanischer als alles was sonst aus dem Vereinigten Königreich kommt. Ihr Anspruch liegt weniger in den großen Stadien, weniger in den gigantischen Arenen als viel mehr in der heruntergekommenen Garage und im zu gleichen Teilen schmutzigen wie gemütlichen Club um die Ecke. Das ändert aber nichts daran, dass Ash durchgängig verdammt mitreißend klingen, enorm eingängige Hooklines auf ihrer Seite haben und in all ihrem Spaß am Schmutzigen, Heruntergekurbelten und Minimalistischen eben doch auch diese gewisse Epicness mitbringen, die sich in wundervoll tanzbaren Poprockstücken der härteren Art widerspiegelt. 1977 ist wohl das Britpop-Alben, das am ehesten auch den Nicht-Briten, den NOFX-Fans, den Nirvana-Enthusiasten und Blink-182-Feierern gefällt.
Oasis – (What’s the Story) Morning Glory?
(Creation, 1995)
Es hat schon seine Gründe, dass Oasis als größte Band der Britpop-Landschaft gefeiert werden. Während Blur auf dem Nachfolger von Parklife – The Great Escape – etwas in Straucheln geraten (und sich erst auf dem selbstbetitelten Nachfolger vollends neu erfinden werden), liefern Oasis mit ihrem Zweitschlag auch gleich ihr zweites Meisterwerk ab. Es verdient schon Beachtung, wenn eine Band innerhalb von etwas mehr als zwölf Monaten zwei Alben für die Ewigkeit veröffentlicht, und noch mehr Beachtung verdient es, wie konsistent die Qualität von Oasis-Outputs in dieser Zeit ist. Wie sein Vorgänger ist „(What’s the Story) Morning Glory?“ ein ganz großer Rock-Wurf, eine wilde Mischung aus mitreißenden Harmonien, definitiven Song-Epen, lauten Rocknummern, verlorenen Balladen und größenwahnsinnigen Hymnen. Selbst wenn es damals von der Presse nicht ganz so enthusiastisch gefeiert wurde, können wir mittlerweile festhalten, dass der morgendliche Ruhm ebenso glanzvoll ist wie sein älterer Bruder, vielleicht sogar noch ein bisschen ausgereifter, einen Tacken mehr, ein Tacken höher und einen Tacken immersiver. Besser als auf dieser LP sollten Oasis nie wieder klingen, und dieses Meisterwerk im Nacken ist es auch irgendwie fast schon nachvollziehbar, dass sie in der Folgezeit an ihrem Größenwahn zerbrechen. Anyway, für genau diese Sekunde, für genau dieses Stück Musik dürfen sie sich jede Arroganz, jeden Narzissmus, all das Ego erlauben, für das sie so berühmt sind.
Ocean Colour Scene – Moseley Shoals
(MCA, 1996)
Feuilleton- oder Kritikerlieblinge waren Ocean Colour Scene nie. Ganz im Gegenteil: Retrospektiv betrachtet scheinen sie fast so etwas wie das erste Bauernopfer einer Musikpresse zu sein, die – als sich die Mitt-90er zu den End-90ern entwickelten – die Schnauze voll hatte von nostalgisch angehauchtem, eklektischen Pop von der Insel. Warum gerade Ocean Colour Scene? Nun Gründe dafür zu finden fällt gar nicht so schwer: Ohne den Bombast von Oasis, ohne die Verspieltheit von Blur, ohne die Experimentierfreude von Radiohead oder die Düsternis von Suede, dafür aber ordentlich gepusht von den Gallagher-Brüdern, die Charts erobernd und Hallen füllend… da muss doch irgendwas faul sein. Schnell wurden die Alben von Simon Fowler und seinen Mannen als durchschnittliche, dröge und uninteressante Version des Britpop abgestempelt, die weder Aufmerksamkeit noch Erfolg verdient haben. Dabei sind sowohl Moseley Shoals als auch sein 97er Nachfolger Marchin‘ Already wirklich saubere Alternative Rock Alben, die sich ordentlich beim späten Paul Weller bedienen und neben klassischem Rock N Roll vor allem nüchterne Songwriterkost als Vorbild aufweisen. Vielleicht klangen Ocean Colour Scene damit immer ein wenig zu reif, zu adult oriented (Dad-Rock war anscheinend ein beliebter Vorwurf), gerade beim Rerun ihrer Alben aus dieser Zeit entpuppen sie sich aber als wirklich starker, schnörkelloser Rock, der keine großen Gesten nötig hat und dennoch mit Melodie und Hookline zu verzaubern weiß. Moseley Shoals mag nicht das progressivste Stück Britpop sein, ist aber in sich geschlossen, bewegend wie rockend und einfach ein schönes Stück britischer Rockkultur. Wer keine Angst vor der Geschmackspolizei hat und das Schlichte im Großen wie Kleinen mag, sollte diesem Album unbedingt eine zweite oder auch dritte Chance geben.
The Verve – Urban Hymns
(Hut, 1997)
Hah, The Verve! Die etwas zu spät Gekommenen, die sich gegen Mitte der 90er von ihrem vorherigen Mod-Image peu à peu befreiten und erst 1997, als Britpop schon im Niedergang war, plötzlich mit einem Peak-Britpop-Album auf der Matte standen… und damit zumindest kurz die Hoffnung nährten, es könnte starken Britpop nach Oasis und Blur geben. Urban Hymns ist nicht nur das erfolgreichste Album von Richard Ashcroft und Co. sondern auch ihr stärkstes. Und lässt man den Kontext mal kurz weg, haben wir hier Peak Brit-Pop vor uns. Urban Hymns ist ein gutes Stück introspektiver, romantischer und verlorener, in erster Linie trauriger als die Konkurrenz, hat aber dennoch so manchen großspurigen Rocker und so manche schillernde Hymne an Bord. Während andere Bands sich durch Experiment oder Größenwahn (dazu später mehr) immer mehr vom eigentlichen Genre entfernen, denken The Verve noch einmal ganz traditionell eklektisch, versuchen aber in diesem Ekelektizismus nicht auf dicke Hose zu machen, sondern wollen im Abstrakten schwelgen und im Hintersinnigen rocken. Urban Hymns umgibt eine surreale, traumhafte Atmosphäre: Die Songs sind ebenso episch wie hypnotisch, besingen den Schmerz und das Leid so wie sie einen Ausweg durch puren Eskapismus schenken. Katharsis durch maximale Erfahrung, Traurigkeit in Musik gepresst, um sie wiederum ihrem Publikum zu entziehen. Urban Hymns vergießt viele Tränen und lässt einen dadurch um so gereinigter zurück. Vielleicht ist es damit auch das perfekte finale Britpop-Werk, das Erlöschen einer Flamme, das Verglimmen und Verträumen der Hymne, das Verlieren der Energie in einem unglaublich gehobenen, stilsicheren und eleganten Rahmen. Sollte man Urban Hymns als Abschluss einer Ära betrachten? Vielleicht… denn einen schöneren Abschluss kann man sich kaum vorstellen.
Bands/Künstler_Innen: Blur, Oasis, Pulp, Radiohead, Suede, Supergrass, | Genres: Alternative Rock, Art Pop, Art Rock, Britpop, Pop, Rock, | Jahrzehnt: 1990er,
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