Die besten Hip Hop Alben der 90er Jahre I: Gangsta-Rap und G-Funk

Also dann… auf gehts mit einem wirklich großen Batzen. Und ich kann sagen, eine beziehungsweise mehrere Bestenlisten für die besten Hip Hop Alben zu schreiben, fällt mir alles andere als leicht. In den 90er Jahren wurde ich primär durch Rock sozialisiert und es sollte bis in die frühen 2000er Jahre dauern, bis ich den Hip Hop als Genre wirklich entdecken sollte. Und um ehrlich zu sein… mit dem Gangsta-Rap konnte ich dabei immer am wenigsten anfangen. Aber versuchen wir es. Lasst euch von einem Weißbrot erklären, was man an 90er Jahre Gangsta-Rap nicht verpassen sollte, mit allen Disclaimern, die dazu gehören. Also, was war wichtig? Geprägt war der Gangsta-Rap in den 90ern vor allem vom Konflikt Eastcoast versus Westcoast. Lässiger G-Funk auf der einen Seite, härtere – auch progressivere Klänge – auf der anderen. Während hier – von einigen Ausnahmen abgesehen – der G-Funk dominiert, werden wir den (von mir präferierten) experimentelleren und auch härteren Strömungen der Ostküste in der späteren Hardcore Hip Hop Bestenliste öfter begegnen. In dieser Liste geht es um die reinen Gangsta-Rap Essentials, insbesondere aus der ersten Hälfte der 90er Jahre, vor dem großen Death Row Records Exodus, vor dem Tod von 2Pac und Notorious BIG und bevor aus Gangsta-Rap Bling Bling Hip Hop auf der einen und Hardcore Rap auf der anderen Seite wurde. Von den Essentials sind die wichtigsten Vertreter natürlich dabei: Dr. Dre und Snoop Dogg von der Westküste, Notorious BIG und Mobb Deep von der Ostküste, und ein paar bekanntere und unbekanntere Namen, die sich dazwischen tummeln. Wie gesagt, es reicht für ein (persönliches) Best of. Aber um tiefer ins Gangsta-Rap-Genre einzutauchen, müsst ihr wo anders graben. Hier gibts die Basics, für alle Kartoffeln da draußen, die so kartoffelig wie ich unterwegs sind. Sagt nicht, ich hätte euch nicht gewarnt.

Ice Cube – AmeriKKKa’s Most Wanted

(Lench Mob, 1990)

Wenn nach den Ursprüngen des Gangsta-Rap gefragt wird, sind N.W.A. nicht weit. Diese können mit ihrem 1988er Album Straight Outta Compton ohne jeden Zweifel als Urväter des Genres betrachtet werden. In den frühen 90er Jahren sind diese jedoch schon praktisch am Ende. Ice Cube verlässt die Band bereits 1989, was ihn aber nicht davon abhält für sein Solo-Debüt AmeriKKKa’s Most Wanted weiter mit ExN.W.A.-Kompagnon Dr. Dre (der die Band dann ein Jahr später verlässt) zusammenarbeiten zu wollen. Das kollidiert allerdings mit den Interessen seines neuen Labels und so werden es schließlich Lench Mob und die Public Enemy Bude The Bomb Squad, die Ice Cube bei der Produktion zur Seite stehen. Nicht die schlechteste Wahl, ist AmeriKKKa’s Most Wanted doch deutlich besser als alles, was N.W.A. nach seinem Abgang veröffentlicht haben. Mit seiner Mischung aus Politischem und Profanen, Härte und Funk krallt er sich die Hip Hop Trademarks der 80er und schaufelt sie rüber in die 90er Jahre. Ice Cube erzählt Geschichten aus dem Ghetto, mit all ihren problematischen Inhalten. Sex und Gewalt sind hier nicht nur Hintergrund sondern direktes Erleben. Das ist oft hart an der Schmerzgrenze, sowohl musikalisch als auch lyrisch, aber es ist eben echt. Aus dem Leben gegriffen, ohne Filter und mit all dem, was dieser Lifestyle mit sich bringt. Zugleich verliert AmeriKKKa’s Most Wanted nie den Blick über das große Ganze, im Gegensatz zu späteren – das Genre auch oft zu Tode tretenden Veröffentlichungen, gibt es hier nicht nur romantisierten Gangsterindividualismus sondern auch politische Anklagen, Beobachtungen von politischer Tragweite, Reflexionen des strukturellen Unterbaus. Ice Cube ist ebenso Poet wie Gewalttäter, unabhängiger Beobachter und Krimineller, der direkt im Geschehen drin ist. AmeriKKKa’s Most Wanted trägt den (falschen) Stolz ebenso in sich wie die wütende Reflexion, ruht sich nicht in der Ecke aus, in die es gedrängt wird, sondern versucht den Aus- und Aufbruch. Vielleicht gerade deshalb, weil es den Weg zum konsumorientierten Gangsta-Rap der späteren 90er Jahre noch nicht konsequent vollzogen hat, eines der stärksten Alben dieser Ära.

Dr. Dre – The Chronic

(Death Row, 1992)

Keine 90er Gangsta-Rap-Liste, ja keine 90er Hip Hop Liste generell, ohne das Debütalbum von Dr. Dre, das den Gangsta-Rap und im Speziellen den G-Funk mal so eben für das noch frische Jahrzehnt wegdefiniert. Das Krasse – im wahrsten Sinne des Wortes – an The Chronic ist, wie unverblümt es popaffinen Funk mit hartem sozialen Realismus versöhnt. Der Kontrast scheint hier allgegenwärtig zu sein. Unterstützt von Snoop Dogg, dessen Gastauftritte für die Qualität dieses Albums nicht überschätzt werden können, erzählt André Romelle Young alias Dr. Dre Geschichten von der Straße, vom Leben und vom Überleben, vom Sterben und Töten. Politik ist bei dem Ex-N.W.A-Mitglied Nebensache, es geht nicht um das Erfassen universeller, struktureller Probleme sondern ganz und gar um die individuelle Erfahrung. Und diese beinhaltet auch – es wurde oft genug gesagt – Sexismus und Gewaltfantasien. Mitunter tut es fast schon weh, wie entspannt und sorgenfrei hier härteste Lyrics vor ein Fundament aus groovigen Rhythmen und entspannten Funk gepackt werden. Der Tod lauert um die Ecke und dennoch wird musikalisch gefeiert, als sei dieser tägliche Kampf eine einzige Party. Man muss den Kontrast und die Nuancen in diesen Geschichten zulassen, dann erlebt man aber ein nicht nur prototypisches sondern auch nach wie vor starkes Stück Gangsterfilm. Authentisch as fuck und trotz seiner Ehrlichkeit, Tightness und Härte stets zum Chillen einladend. The Chronic ist einfach mal das verdammte Meisterwerk, das alle in ihm sehen: G-Funk-Wegbereiter, Westcoast Gangsta-Rap Blaupause und eines der besten Hip Hop Alben überhaupt.

Snoop Dogg – Doggystyle

(Death Row, 1993)

Hatte er ein Jahr zuvor noch auf Dr. Dres Debüt als ominpräsenter Gast geglänzt, legt Snoop Doog mit Doogystyle nur ein Jahr später sein erstes Soloalbum vor, auch wenn sein Name schon längt in aller Rap-Munde war. Das Wort Solo-Album muss aber hier – wie bei so vielen Westcoast-Veröffentlichungen der Zeit – mit Vorsicht genossen werden. Nicht nur, weil Dr. Dre höchstpersönlich sich für die Produktion verantwortlich zeigt, ist Doggystyle so etwas wie der inoffizielle Nachfolger des gefeierten The Chronik und besitzt auch alle Trademarks seines Vorgängers. Die Gastauftritte des gesamten Death Row Kabinetts, die P-Funk Samples, die Mischung aus harten, brutalen Geschichten und entspanntem Partysound; natürlich auch den Sexismus und die Gewalt (die man im Gangstarap der 90er Jahre einfach nicht verschweigen kann). Und die Krux bei der ganzen Geschichte: Es ist das bessere Album. War The Chronic bereits ein zweifelloses Meisterwerk, so stellt Doggystyle so etwas wie die Krönung des G-Funk dar. Die Gründe sind einfach: Dr. Dre ist ein herausragender Produzent und lässt in dieses Album wie bereits ein Jahr zuvor all sein Können einfließen. Und Snoop Dogg? Der ist einfach mal – sorry – der bessere Rapper von den beiden. Es ist schon unglaublich, mit welcher Nonchalance er sich hier durch diverse Raptracks murmelt, schlendert und selbst nach vorne treibt. Mit einem unfassbaren Flow in der Stimme, dem richtigen Gespür für Tritte und für Schabernack; mal entspannt nuschelnd, mal zurückgelehnt erzählend, mal energiegeladen schnell. Hinzu kommt, wie unfassbar rund das ganze Album ist. Zusammengehalten von Samples, schrägen Interludien, Gangsterromantik und viel Bro-Gequatsche ist es wahrscheinlich das geschlossenste Album des Genres, mit dem stärksten Fluss, dem kräftigsten Zug… und natürlich auch dem knackigsten Arsch in der Hose. Wer The Chronic denkt, muss Doggystyle mitdenken.

Cypress Hill – Cypress Hill

(Ruffhouse, 1991)

Cypress Hill sind Gangsta-Rap Avantgarde: Vorreiter des Genres… und zugleich auch so etwas wie seine Exoten. Ihre lateinamerkianischen Wurzeln lassen sie ebenso herausstechen wie ihre deutlich mehr Richtung Rock und Metal denn Funk laufenden Rhythmen und Sounds. Und so kann man ihre nachfolgenden Alben wenn man will dem Hardcore Hip Hop zuordnen, dem Crossover, teilweise sogar einfach dem Rap Metal. Auf ihrem Debüt Cypress Hill zelebrieren sie aber noch Gangsta-Rap der ursprünglichsten Sorte. Das klingt dann fast wie ein Vorläufer des – immerhin ein ganzes Jahr später veröffentlichten – Dr. Dre Debüts und ist aber doch alles andere als der typische G-Funk, den wir in der Folgezeit des öfteren aus Kalifornien vernehmen werden. Im Gegensatz zu Dre et.al dienen die Funk-Samples hier nicht für einen entspannten sondern viel mehr einen bizarren Trip, der die Geschehnisse des Ghettos und der Straße zu einer Geisterbahn werden lässt. Wenn Cypress Hill stoned sind, lehnen sie sich nicht einfach nur zurück, sondern fahren ihren ganz eigenen Film ab; irgendwo zwischen harter Gangrealität und kafkaeskem Wahnsinnstrip, inklusive einem schrägen Humorverständnis und einer Dramatik, bei der man sich nie so ganz sicher sein kann, was denn nun ernst gemeint, was Geschichte und was albernes Getrolle ist. Gerade der bizarre Humor, lyrisch wie musikalisch, ist es, der Cypress Hill immer ein wenig zynischer, ein wenig akademischer scheinen lässt. Ihre Tracks sind nicht einfach nur tight, sondern immer auch ein bisschen gehässig, gegen sich, gegen andere, gegen die eigene Gehässigkeit, und damit verdammt universell und zeitlos; Cypress Hill als Album ist nicht einfach nur mitreißend, sondern in seinem Sog auch immer widerborstig, widerspenstig und dadurch deutlich herausfordernder als der entspannte Schlenker, den der G-Funk in den 90er Jahren noch nehmen wird.

Thug Life – Thug Life: Volume 1

(Interscope, 1994)

Tupac Amaru Shakur – geboren als Lesane Parish Crooks – gehört zu den schillerndsten Figuren des amerikanischen Gangsta-Rap. Stärker noch als seine in den frühen 90er Jahren veröffentlichten Alben ist das Sideproject Thug Life, in dem er mit Big Syke The Rated R, Macadoshis und seinem Stiefbruder Mopreme Shakur zusammenarbeitet. Thug Life, Volume I ist möglicherweise das intensivste Album des Gangsta-Rap der 90er Jahre überhaupt. Im Gegensatz zu anderen G-Funk Outputs der Zeit werden hier auch musikalisch keine Gefangenen gemacht. So viel Groove sich im Hintergrund auch befindet, die derben Beats und harten Vocals machen klar, dass die Party hier eher als zweitrangig zu begreifen ist. Man vergisst ja allzu leicht, wie aggressiv und hart und auch politisch der G-Funk sein konnte, wenn man vor allem seine poppigen, funkigen Vertreter kennt. Thug Life ist ungefiltertes Gangsterleben, nicht mit Samples entschärft, sich nie entschuldigend, den Funk nicht zur Verpoppung nutzend. Das ist kein Spielplatz, hier geht es ernst zu, deutlich ernster als auf 2Pacs früheren Alben, deutlich härter und dadurch – wenn auch im Gegensatz zu diesen nicht unbedingt in den Lyrics widergespiegelt – deutlich politischer. Thug Life ist das sozialrealistische Statement des Genres, gekommen um zu bleiben und wie ein Stachel im Fleisch der amerikanischen Gesellschaft zu sitzen. Macht euch keine Illusionen, Gangsta-Rap ist kein Urlaub von der braven bürgerlichen Realität. It’s real.

2pac – Me Against the World

(Interscope, 1995)

1995 legt Tupac Shakur als 2Pac ein Solo-Album vor, das zwar nicht mit seinem bisherigen Gangsta-Rap-Œuvre bricht, allerdings auch dieses nicht einfach so weiterfeiert wie bisher. Me Against the World ist fast so etwas wie die philosophische Introspektion des Genres. 2Pac sinniert über Sinn und Unsinn seines Lebens und seines Schaffens, meist mit dem Stolz – und vor allem auch der Romantik – des teils selbstverschuldeten, teils von der Gesellschaft in die Ecke gedrängten Außenseiters und kleidet diesen Selbsterkennungsprozess in großartige Rapgewänder, mal progressiv und experimentell, mal mit viel G-Funk-Pop, mal extrem gefühlvoll mit Soul und Rhythm and blues. Genregrenzen sind hier eher zweitrangig. atmosphärische Grenzen gibt es ohnehin keine. Und trotz seiner gelegentlichen „Ihr könnt mich alle mal. Ich bin, wie ich bin“-Attitüde kommt Me against the World nur in den seltensten Momenten weinerlich oder selbstgefällig daher. Stattdessen sagt das Album wie es ist, ganz konzentriert auf den Status Quo seines Schöpfers, ganz nah am Menschen, sowohl im Nachdenklichen als auch im Kämpferischen. Ein Jahr nach der Veröffentlichung wird Tupac Shakur im Alter von 25 Jahren in Las Vegas durch mehrere Schüsse auf seinen Wagen getötet. Es bleibt dieses Vermächtnis, das als Reflexion der Kunst und des Lebens 2Pacs als Gangsta-Rapper genau zur rechten Zeit und gleichzeitig zu spät geboren worden zu sein scheint.

Notorious BIG – Ready to Die

(Bad Boy Records, 1994)

Der Konflikt zwischen Tupac Shakur und Christopher George Latore aka Notorious BIG aka Biggie aka Biggie Smalls aka Big Poppa aka B.I.G. aka Frank White gehört zu den großen Narrativen des Gangsta-Rap der 90er Jahre… und leider auch zu den tatsächlich verheerenden Ereignissen jener Ära, unabhängig von ihrer Rezeption und Verarbeitung in den Medien. Keiner der beiden wird die 90er Jahre überleben, mutmaßlich eben wegen jenes Konflikts. Man muss keine große Eastcoast gegen Westcoast Diskussion aufmachen, um zu sehen, wo sich das Debüt des New Yorkers Notorious BIG von den Alben der Kalifornier Konkurrenten (und Feinde) der damaligen Zeit unterscheidet. Während der Westküsten G-Funk immer nach den entspannten Tönen für die Unterlegung der harten Geschichten sucht, gibt sich Ready to Die vollkommen deren Dramatik hin… im wahrsten Sinne des Wortes. Hier geht es nicht um die Party rund um das Überleben, sondern um das Überleben selbst. Latore ist nicht nur ein Geschichtenerzähler, sondern ein Dramatiker. Wenn der Tod hinter jeder Ecke lauert wird dies untermauert von harten, tighten, teilweise schmerzhaft repetitiven Beats. Wenn seine Geschichten einer Klimax entgegeneilen, wird auch der Ton intensiver, wenn getrauert wird, melodramatischer, wenn gekämpft wird, kämpferischer. Entspannt wird hier nur selten, am ehesten, wenn Produzent Sean „Puff Daddy“ Combs seine popaffineren Melodien in den Sound einfließen lässt. Meistens wird jedoch geflucht, gehadert, verflucht und getötet. Und so ist Ready to Die auch deutlich dichter und immersiver als der Gangsterrap, den man von der Westcoast kennt. Notorious BIGs Erbe ist es vor allem, den harten politischen Sound des Hardcore Hip Hop (ein Subgenre, zu dem wir später noch kommen werden) mit den Geschichten des Gangsta-Rap zu verbrüdern; und das Ganze auf einer gewaltigen Bühne mit nahezu Shakespeare’schen Ausmaßen. Dichter kann Gangsta-Rap kaum gestaltet werden.

Mobb Deep – The Infamous

(Loud Records, 1995)

Es geht vielleicht nicht dichter als bei Notorious BIG, aber die Eastcoast-Kollegen Mobb Deep kommen verflucht nah an dessen Dramatik heran. Das Duo Prodigy und Havoc versteht sich ebenfalls ausgezeichnet darin, nicht einfach nur Geschichten von der Straße zu erzählen, sondern diese mit einer unfassbar intensiven Geräuschkulisse zu untermalen. „Deep“ ist dabei das Schlüsselwort, denn genau so kommt ihr zweites Studioalbum daher. Tief bis hinunter auf die Knochen, hinein ins Knochenmark, tief bis zum untersten Kern der Seele hinab, aus dem die beiden Rapper dunkle, unheilschwangere Beats und Vocals hervorholen. The Infamous ist beinahe so etwas wie der Horrortrip unter den Gangsta-Rap-Alben, eine Revitalisierung des Hardcore Hip Hop Gedankens, der einst mit der Westküste assoziiert war, im G-Funk Gangsta-Rap praktisch vollkommen verloren ging… und nun in den 90ern irgendwie seinen Platz an der Ostküste wiedergefunden hat. Mobb Deep sind das Sinnbild für diese Wanderung, erzeugen Atmosphäre, hauen uns Brocken um Brocken entgegen, so als sei der ganze G-Funk Kosmos westlich von ihnen nur ein Ausrutscher gewesen. Und sie vergessen dabei nicht, vom harten Kampf auf der Straße zu berichten, mit all den Tropes, die dort irgendwie ihren Platz finden. Ein extrem starkes Album, das extrem gut verdeutlicht, warum sich Mitte der 90er Jahre eben doch der Eastcoast Gangsta-Rap als Brutstätte für immersive Geschichten von den Schattenseiten Amerikas durchsetzen sollte. Und dann werden auch schon die Genregrenzen so weit gedehnt, das eigentlich alles was weiter geht, verdient als mehr gewürdigt zu werden denn bloßer Gangsta-Rap. See you in the Hardcore Hip Hop Corner…

Warren G – Regulate… G Funk Era

(Violator, 1994)

Aber auch Westcoast Gangsta-Rap kann progressiv und originell sein, eben genau dann, wenn er sich von den Tropes eines Dr. Dre und Snoop Dogg – die Mitte der 90er viel zu schnell zu Klischees wurden – zurückzieht. Warren G., Stiefbruder von André Romelle „Dr. Dre“ Young erreicht diese Originalität, indem er sich für einen Gangstarapper ziemlich weit entfernt von all dem Geprolle und Gepose, das man von der Westcoast üblicherweise kennt und das sonst mal mehr mal weniger geschickt hinter Funk-Samples versteckt wird. Er scheint den Grundgedanken des Funk wirklich ernst zu nehmen, und das bedeutet, bei aller Gangsterattitüde auch einfach mal Spaß am Leben zu haben, fast vollkommen ohne den genreüblichen Beef, Krach und Sexismus. Stattdessen gibt es fast schon warmherzige Gangsta-Rap-Hymnen, mit ebenfalls untypisch ziemlich vielen weiblichen Gastvocals und einer nahezu herzlichen Grundstimmung. Trotzdem ist Warren G nicht einfach nur die Popsau unter den Westcoast-Rappern. Dafür ist sein Sound zu dicht, dafür ist die Attitüde zu real. Ja, wenn man von Snoop Dogg oder Dr. Dre himself kommt, mag einem das Grundgerüst von Regulate… G Funk Era zu brav und gefällig erscheinen; aber genau diese Zurücknahme der Street Toughness sorgt dafür, dass vollkommen das im Mittelpunkt steht, was bei einem guten musikalischen Output im Mittelpunkt stehen sollte: The motherfucking music! Warren G liefert hier ab, weit entfernt von den Selbstbeweihräucherungen der Kollegen, weit entfernt von den Westcoast-Exegeten der Mitt-90er, die die Zutaten des G-Funk fast schon formelhaft durchgespielt haben. Ein kleines Gangsta-Rap-Juwel, das durch seinen Widerstand gegen die 90er Trends deutlich besser gealtert ist als vieles Andere aus der Ecke aus der Ära.

Coolio – Gangsta’s Paradise

(Tommy Boy, 1995)

Jaja, ich weiß, was ihr denkt. Jetzt habe ich so oft betont, dass Gangsta-Rap insbesondere der G-Funk überhaupt nicht mein Genre ist, habe gerade mal die wesentlichen Alben der Westküste genannt, ständig auf die kommende Hardcore Hip Hop Bestenliste verwiesen, und jetzt besitze ich auch noch die Dreistigkeit, ausgerechnet Coolio in dieser Bestenliste aufzuführen. Coolio, die Popsau, Coolio, der mit der Single Gangsta’s Paradise so ziemlich von jedem wahrgenommen wurde, auch in den Charts, den Kaufhäusern, den Radiostationen und Fahrstühlen der Weißbrote sein zu Hause fand und mit seiner „netten“ Art fast so etwas wie die Antithese zu den harten Klängen des sonstigen Westcoast Hip Hop ist. Egal, fuck it! Ich brauche hier gar nicht so defensiv zu sein; denn Gangsta’s Paradise ist einfach mal ein fantastisches Album. Vor allem, weil es die sonst im G-Funk dominanten Klischees nicht nur ignoriert, sondern aktiv reflektiert, nicht einfach nur Geschichten von der Straße erzählt, sondern deren Moral – beziehungsweise Amoralität – hinterfragt und permanent so etwas wie Respekt und Auseinandersetzung predigt. Ja, Coolio macht den popaffinsten Gangsta-Rap überhaupt, aber gerade dadurch hat er nicht nur ein Alleinstellungsmerkmal sondern macht oft deutlich mehr Freude als die in ihr Outlawtum selbstverliebte Konkurrenz. Und dabei muss er auf gar nicht viel verzichten: Auch auf Gangsta’s Paradise gibt es derbe Beats, immersive Geschichten aus dem Ghetto, umspielt von P-Funk Samples und R&B-Einflüssen, mit entspanntem Flow und mitunter harten Themen. Aber es sind eben nicht nur Geschichten für die Involvierten (und die, die – warum auch immer – gerne involviert wären), sondern vor allem Geschichten für die Außenstehenden, die versuchen zu verstehen und zu erkennen. Es sind auch Geschichten, die mitunter mit einer fast schon soziologischen Akribie das Geschehen beobachten und bewerten. Hinzu kommt ein wirklich einnehmender Sound, ein großartiges Gespür für Ohrwürmer, für Rhythmus und Flow… Und so haben wir ein Gangsta-Rap Album vor uns, das vielleicht nicht ganz die Realness und Toughness wie andere seiner Art besitzt, dafür aber deutlich mehr Gespür für das Musikalische und die richtige Dramatik hat. Und nochmal, Fuck It! Ich lege mich jetzt einfach fest. Gangsta’s Paradise gehört zu den besten G-Funk Alben überhaupt und muss sich keineswegs vor Dogg und Dre verstecken.

Jay-Z – Reasonable Doubt

(Priority, 1996)

Machen wir uns nichts vor. Wenn du nicht ins Ghetto geboren wurdest, nicht im Ghetto aufgewachsen bist, und nie erfahren hast, wie es ist – qua Geburtsrecht – ein gesellschaftlicher Außenseiter zu sein, ist Gangsta-Rap für dich nicht viel anderes als ein gehobener Gangsterfilm, der dich für einige Zeit abtauchen lässt in die Welt der Bandenkriminalität, der Drogen und Gewalt und des Kampfes ums Überleben. Ein cineastisches Erlebnis, aus dem du viel zu einfach wieder entkommen kannst. Wohl kein anderer hat diesen Umstand Mitte der 90er Jahre so gut verstanden wie Jay-Z. Auf seinem Debüt Reasonable Doubt macht er keinen Hehl daraus, dass das Großteil seines Publikums einem unterhaltsamen, mal erschreckenden, mal düsteren, im besten Fall ein bisschen lehrreichen Krimi lauscht. Mafioso Rap wurde das Ganze dann gerne genannt, einfach weil es mit seiner Mischung aus Realness, Coolness und narrativer Kraft nicht nur der Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben dient, sondern die Musik auch als Leinwand für einen Kinofilm herhalten muss, in dem die Zuhörer abtauchen können in eine ebenso spannende wie elegante Welt. Im Mittelpunkt steht die Ästhetik des Gansterlebens, vorgetragen von Jay-Z’s unnachahmlichen Flow: Mal langsam erzählend, mal nachdenklich beobachtend, oft aber einfach auch extrem charismatisch mitreißend. Der Eastcoast Gangsta-Rap wird hier äußerst exquisit verpackt, er wird zum Stoff aus dem die Träume und Alpträume sind, einerseits verheerend und schmutzig, andererseits edel schimmernd; mal mit Pathos, mal mit Seele, mal mit einem verschmitzten Grinsen und dem Versprechen auf viel Bling Bling. Bis heute das beste Album von Jay-Z (auch wenn sich einige seiner späteren Werke ebenfalls hören lassen können) und die oscarreifeste Leistung im Gangsta-Rap überhaupt.

Luniz – Operation Stackola

(Virgin, 1995)

Es gehört zu den größten Ungerechtigkeiten des Hip Hop, dass Luniz als das Gangsta-Rap One Hit Wonder der 90er Jahre in die Musikgeschichte eingegangen sind. Denn auch wenn „I got a 5 on it“ ein absoluter Rap Pop Banger ist, der jeden Outplay verdient, den er bis heute erhalten hat, so hat ihr Album Reasonable Doubt weitaus mehr zu bieten als diesen einen Übersong. Mit einer gediegenen Mischung aus G-Funk und Laid Back Hip Hop groovt sich das Kalifornier Duo durch seine Songs, die zumindest auf den ersten flüchtigen Blick ein bisschen mehr Pop in sich zu tragen scheinen als man sonst von der Westküste gewohnt ist. Der P-Funk ist hier mitunter sehr präsent, wird dann aber immer wieder geradezu zertrümmert von wirklich harten und derben Gangsta-Rap Nummern, bei denen sich Yukmouth und Numskull weder lyrisch noch musikalisch zurückhalten. Operation Stackola verbirgt hinter seiner laid back Attitüde nämlich wahre Gangsta-Rap Monstren, mit all dem wofür vor allem der G-Funk der Westküste geliebt und gehasst war. Ja, auch hier begegnen wir der Gewaltverherrlichung und dem Sexismus, auch hier begegnen wir der Glorifizierung des Gangsterlebens… aber eben in einem Sound, der mitunter tighter und glaubwürdiger ist als alles andere von der Westküste. Ja, bei Luniz sind die Gegensätze der Relaxtheit des Funk und der Schärfe des harten Gangsta-Rap noch einmal voll spürbar. Operation Stackola kämpft mit seinen Gegensätzen, kann Pop-Hit ebenso hervorbringen wie toughe G-Funk Masterpieces, ohne sich für eine Seite entscheiden zu müssen. Als ein wenig am Rand stehende machen Luniz damit klar, dass ambivalenter G-Funk Mitte der 90er Jahre keineswegs ein Death Records Heimspiel sein musste. Lasst euch nicht vom One Hit Wonder Status täuschen. Und lasst dieses kleine Meisterwerk nicht an euch vorüberziehen.

Bands/Künstler_Innen: 2pac, Coolio, Cypress Hill, Dr. Dre, Ice Cube, Jay-Z, Luniz, Mobb Deep, Notorious BIG, Snoop Dogg, Thug Life, Warren G, | Genres: Gangsta-Rap, Hardcore Hip Hop, Hip Hop, | Jahrzehnt: 1990er,


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