Die besten Grunge Alben der 90er Jahre VI

Wir befinden uns im Jahr 1994 und der kurzlebige Grunge Craze der Jahre zuvor ebbt zu Beginn des Jahres langsam und in der Folgezeit immer schneller ab. Im April des Jahres wurde Kurt Cobain nach einem mutmaßlichen Selbstmord in Seattle tot aufgefunden, im Juni starb die Hole Bassistin Kristen Pfaff an einer Überdosis Heroin, und Alice in Chains Sänger Layne Staley begab sich wegen seiner Suchtprobleme selbst in eine Entzugsklinik. Neben den großen persönlichen Katastrophen gab es auch durch den Hype verursachte Kriegsschauplätze, mit denen sich die populären Grunge Artists auseinander setzen mussten. So mussten Pearl Jam wegen des plötzlichen Erfolgs einen Kleinkrieg gegen ihren Ticketverkäufer Ticketmaster führen, weil dieser die Fans ordentlich zur Kasse bitten wollte. Hinzu kamen die ersten Abgesänge auf das Genre, nicht zuletzt auch wegen der zahllosen Epigonen, die dem Grunge mehr und mehr zu dem werden ließen, was seine Vertreter immer so vehement abgelehnt hatten: Ein Mainstream Rock Genre für alle, ohne Biss, ohne Substanz. Bei all diesen Dingen vergisst man gerne, dass Grunge auch in diesem Jahr noch ordentlich gebrannt hat. Viele große Künstlerinnen und Künstler reagierten auf die genreimmanente Krise, indem sie in dessen Rahmen neues ausprobierten: So finden wir in dieser Liste melancholische Abgesänge von Alice in Chains, Pop-Flirts von Hole, Wutbrocken von Pearl Jam und Zukunftsweisendes von Veruca Salt und den Makers. Trotz all seiner Tragik war 1994 auch ein starkes Jahr für den Grunge, vielleicht auch irgendwie das beste Abschlussjahr, das man sich vorstellen kann, mit einem ebenso traurigen wie famosen Schlusspunkt durch das im November auf Platte veröffentlichte Unplugged-Konzert von Nirvana.

Alice in Chains – Jar of flies

(Columbia, 1994)

Nur eine EP, aber was für ein Befreiungsschlag! Zurück von der Lollapalooza-Tour 1993, ausgebrannt und ohne festen Wohnsitz produzieren Alice in Chains innerhalb weniger Tage eine EP, die einen radikalen Gegenentwurf zum Vorgängeralbum Dirt darstellt. Von Metal ist von einer Ausnahme abgesehen kaum noch etwas zu spüren auf diesem in sich gekehrten Mini-Album. Auch der Punk, Grunge und Groove werden weitestgehend zurückgefahren für eine ganz eigene kammermusikalische Atmosphäre. Mit einem dichten Akkustikfundament ausgestattet spielt Jar of Flies mit seinen Genres, taucht in Blues, Grunge und sogar Country hinab, um diesen in melancholischen introspektiven Songs ihren dunklen, schmutzigen Kern zu entlocken. Jar of Flies findet in der Melancholie die Wut und Verzweiflung, die Alice in Chains zuvor in harten und brutalen Metalhymnen auf Seattle losgelassen haben. Anders aber nicht weniger intensiv, ein wenig wie der Kater nach der großen Party oder die Erschöpfung nach dem Fieberwahn. Jar of Flies trifft mit Sicherheit nicht jeden, der in die vorherigen Alice in Chains Wutbrocken verliebt ist. Wenn es trifft, dann trifft es aber mindestens genau so hart. Vielleicht sogar das intensivste, dichteste, was Alice in Chains je produziert haben.

Hole – Live Through This

(DGC, 1994)

Hatte ich zuvor noch Holes Pretty on the Inside als perfekten Gegenentwurf zum poppigen Einschlag von Nirvanas Nevermind hervorgehoben, so lässt sich zu dessen Nachfolger „Live Through This“ ohne jeden Zweifel festhalten, das es so etwas wie Holes eigenes Nevermind darstellt. Die Hooklines sind eingängiger, die Melodien etwas schmeichelnder, das Gesamtpaket ist runder und poppiger. Jedoch wie bei der großen Referenz, vielleicht sogar noch stärker als bei dieser, sorgt der Pop-Appeal nicht dafür, dass die Härte, Wut und Verzweiflung verloren geht. Live Through This atmet den Grundgedanken der Teenage Angst, den Zorn, die Verlorenheit und diese gewisse Attitüde, die den Grunge auszeichnet. Natürlich ist es vor allem Courtney Loves Stimme, die dieses großartige Album auszeichnet, aber auch der Rest der Band gibt alles, um punkige, rockige, dreckige und dennoch wunderschöne Grunge-Hymnen aus dem Hut zu zeigen. Auf der Suche nach der perfekten Kombi aus Eingängigkeit und Authentizität lässt sich 1994 kaum etwas besseres finden.

Veruca Salt – American Thighs

(Minty Fresh, 1994)

Noch mehr Eingängigkeit findet sich bei Vecura Salt, die auf ihrem Debütalbum eine großartige Mischung aus Grungyness und Pop-Appeal abliefern. American Thighs lebt dabei weniger von seiner Hymnenhaftigkeit als viel mehr von dem zurückgelehnten Charme, den seine fantastischen Songs versprühen. Es ist ein wenig der kleine Nerd unter den Riot grrrl LPs der damaligen Zeit. Veruca Salt haben keine Angst vor mainstreamigen Hooklines, bauen auch so manche „Ohhohos“ und „Ahahahas“ in ihre Songs ein, zitieren Spiderman, spielen mit Pixies Humor und feiern Forsythien, während sie daneben auch die klassischen lyrischen und musikalischen Grunge-Trademarks abfeuern. Mit dieser Mischung haben wir hier schon fast so etwas wie die Vorwegnahme des Power Pop und Pop Punk der späten 90er Jahre vor uns, jedoch ohne, dass der Sound jemals ins Infantile abrutschen würde. Bei American Thighs steht der Song im Mittelpunkt, schnell, auf den Punkt gebracht und im Ohr der Hörerinnen direkt zum Ohrwurm mutierend.

Soundgarden – Superunknown

(A&M Records, 1994)

1994 scheint das Jahr zu sein, in dem die Größen der Seattler Bewegung erkannten, dass sich mit Grunge weitaus mehr anstellen lässt, als gegen den Metal-Mainstream gebürstete, dreckige harte Rockalben zu veröffentlichen. Superunknown ist das wahrscheinlich experimentellste und diverseste Album Soundgardens. Wo auf dem Vorgänger – Badmotorfinger – noch großspuriger, düsterer Grunge/Metal vorherrschte, spielt die 1994er LP mit Psychedelic, Prog aber auch einer ordentlichen Portion Pop-Appeal. Eigentlich ist Superunknown zu pittoresk, zu dekonstruktivistisch, um als Soundgardens Nevermind-Entwurf rezipiert zu werden. Aber genau das war letzten Endes das Ergebnis dieser Veröffentlichung: Soundgarden wurden mit Hits wie Spoonman und Black Hole Sun in den Olymp des Grunge Rock gespült, inklusive massivem MTV Airplay, sechsfach Platin und einer Popularität, die die Band zumindest kurzzeitig ganz dicht dran sein ließ an Nirvana, Pearl Jam und Alice in Chains.

Pearl Jam – Vitalogy

(Epic, 1994)

Okay, let’s talk about Pearl Jam… again. Die waren ja nie die großen Lieblinge der Hardcore Seattle Grunge Szene. Zu pathetisch, zu kitschig, zu Pop-affin, zu sehr Mainstream… sucht euch den passenden Vorwurf aus. Aber – und das muss man ihnen zu Gute halten – Sie haben es versucht. Und wie sie es versucht haben! Pearl Jam haben sich anscheinend nie zufrieden gegeben mit ihrem Ruf in der Szene. Immer ging es ihnen auch darum, sich weiterzuentwickeln, neues auszuprobieren, im Rahmen ihres musikalischen Kosmos Überraschendes, Frisches und Progressives zu erschaffen. Vitalogy steht dabei wie sein Vorgänger VS in einer Reihe von Alben, die versuchen das Pathetische, Abgehobene des Vorläufers Ten abzufedern durch härtere, geerdete und spontanere Klänge. Auf welchem Album dies besser gelingt, darüber lässt sich durchaus streiten. Festhalten lässt sich: Vitalogy ist der Abschluss eines goldenen Album-Hattricks, der mit Ten begonnen wurde und hier glorreich zu Ende geführt wird. Es geht um die Auslotung der Möglichkeiten des Stadionrock: Wie viel Punk, wie viel Blues ist hier möglich? Wie weit lässt sich an der Oberfläche kratzen ohne den Halt für das Publikum zu verlieren? Wie weit können wir mit unserem Sound gehen? Das Debüt Ten ist auf diese Fragen womöglich die spirituelle Antwort, VS die Metal-Reaktion, und mit Vitalogy haben wir die Punk-Lösung vor uns. Die drei gehören zusammen, so verschieden sie auch sein mögen, aber man sollte sie definitiv alle drei gehört haben, um sich ein Urteil über die frühen Pearl Jam zu bilden.

Stone Temple Pilots – Purple

(Atlantic, 1994)

Noch so eine Band, die sich um Weiterentwicklung bemüht, ohne dabei jedoch komplett anders zu klingen. Das Debütalbum der Stone Stemple Pilots – Core aus dem Jahr 1992 – war damals durchaus zwiespältig rezipiert worden: Zu viel Pearl Jam Epigonie war ein beliebter Vorwurf. Auch die ziemlich missglückte lyrische Schlagseite der Single Sex Type Thing trägt nicht unbedingt positiv zum Ruf des Albums bei. Ich würde es kurz fassen und sagen, dass Stone Temple Pilots in ihren Frühzeiten immer ne Spur zu maskulinistisch waren, immer ne Nummer zu groß auf Dicke Hose machen, was sich nicht nur in ihren Texten, sondern auch direkt in ihrer Musik widerspiegelt. Der Nachfolger Purple ist deutlich sensibler, introspektiver und nachdenklicher als sein Vorgänger. Auch hier sind noch Trademarks von großspurigem, egomanischem und zugleich verzweifeltem Rock N Roll vorhanden, es klingt aber alles deutlich verspielter, experimentierfreudiger und weniger angestrengt kraftvoll, als es davor der Fall war. Purple ist ein deutlicher Reifesprung und wahrscheinlich das beste Album der Kalifornier.

The Makers – Howl

(Estrus, 1994)

Während die Seattler gegen Mitte der 90er Jahre anfingen, ihr Verständnis von Grunge komplett neu oder zumindest umzujustieren, kam aus dem benachbarten Spokane ein Sound, der zum einen ganz tief zurückgriff auf Tropes des Garage Rock N Roll, der zum Zweiten damit dem Grunge-Gedanken wahrscheinlich deutlich näher kam als viele der „großen“ Seattle-Bands, und ein Sound, der zum Dritten so manches antizipieren sollte, was gegen Ende der 90er und zu Beginn der 2000er Jahre nochmal ziemlich unerwartet zum heißesten Scheiß werden sollte. Das Debütalbum der Makers- Howl – ist ein kleiner dreckiger Garage Rock N Roll Jüngling, der zwischen 60er Rock, 70er Punk und 80er Jahre Indie hin und her springt. Doch nicht nur das: Trotz seiner nostalgischen Aura kann Howl auch als quasi progressive Vorwegnahme des neuen Garage Sounds gegen Ende des Jahrzehnts. So manch einer wird sich mit Sicherheit noch an das große Rock Revival erinnern, das durch Bands wie The Hives, The Libertines oder The Strokes erinnern. Sogar das „The“ haben die Makers passend in ihrem Namen, und dementsprechend gehen sie dann auch ab. Diese LP steckt voller schneller, wilder und lebensfroher Songs. Vitalismus in schrammelige, unterproduzierte Musik gequetscht: Ein Rockdestillat, ein Rockkondensat… und ein unfassbar vitales Erlebnis. Wie gesagt deutlich authentischer und grungiger als alles, was in diesem Jahr so aus Seattle vorbeigeritten kam.

Nirvana – MTV Unplugged in New York

(Sony Music, 1994)

Die Versuchung liegt nahe, das einzige Live Album dieser Liste als Schlusspunkt des Grunges zu markieren. Aufgenommen im November 1993, veröffentlicht im November 1994… Und dazwischen lag der Tod des charismatischen Nirvana Frontmannes Kurt Cobain. Und dementsprechend wird dieses Album auch gerne rezipiert: Als sei ein von seinen inneren Dämonen geplagter Mann Sänger auf seiner eigenen Beerdigung, als sei dies der letzte Schrei des Grunges, bevor der Hype abrupt abebben sollte. Und ja, natürlich besitzt das Unplugged Konzert in New York diese Charakteristika: Die Melancholie, die Verzweiflung, noch einmal destilliert in intimer Atmosphäre. Es zeigt aber auch noch einmal auf, wo der Grunge herkommt, wie er sich in seiner besten Phase selbst wahrgenommen hat und wahrgenommen werden wollte. Nirvana verzichten zum großen Teil darauf, ihre Hits akustisch zu interpretieren. Statt Smells Like Teen Spirit gibt es hier eine Menge Coverversionen von Country über David Bowie bis zum 80er Jahre Indie und Lo Fi Folk. Statt MTV zelebriert die Band in Wohnzimmeratmosphäre das, was sie unter guter Musik versteht, inklusive gleich dreier Meat Puppets Stücke, in denen Cris und Curt Kirkwood – Masterminds dieser Band – ebenfalls mitjammen dürfen. Unplugged in New York ist eben nicht nur in Musik gebrannte Lebensmüdigkeit sondern ebenso Freude am Leben, am Ungewöhnlichen und Unentdeckten, vielleicht auch ein Abgesang auf den Grunge, aber gleichwohl eine Verbeugung vor seinem Impact auf die amerikanische und internationale Kulturlandschaft. 1995 war der Grunge vorbei… und doch sollte er noch ein gutes Stück weiterleben.

Bands/Künstler_Innen: Alice in Chains, Hole, Nirvana, Pearl Jam, Soundgarden, Stone Temple Pilots, The Makers, Veruca Salt, | Genres: Alternative Rock, Grunge, Indie, Punkrock, Rock, | Jahrzehnt: 1990er,


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