Die besten Noise Rock Alben der 90er Jahre I

Wir wildern weiter durch die alternative Rocklandschaft der 90er Jahre und landen beim Krach. Der Noise Rock ist schon ein faszinierendes Genre. Natürlich weil er – wie so ziemlich alle Stilschubladen – keine wirklichen Grenzen hat. Vieles, was an lauter Rockmusik produziert wird, kann zum Noise Rock gerechnet werden, und vieles was im Noise Rock verortet wird, könnte auch in anderen Schubladen seinen Platz finden. Vom Heavy Metal unterscheidet ihn vor allem die Freude am Atonalen, Verzerrten: Lautstärke sucht der Noise Rock nicht über schwere, metallene Riffs, sondern über seine verstimmten Gitarren, seinen Lo-Fi-Charakter und den Flirt mit dem Experimentellen. Vom Alternative Rock um ihn herum unterscheidet sich der Noise Rock durch seinen teilweise extravaganten Krach, und vom Experimentellen wiederum dadurch, dass er eben doch irgendwie auf den einzelnen Song geht, wenn auch auf bizarre Art und Weise. Und ja, natürlich findet das auf einem Spektrum statt. Auch große Grunge-Bands, selbst Nirvana, haben viel Noise in ihre Musik einfließen lassen. Post Punk hat immer schon kleinere und größere Noise-Momente in sich getragen und selbst die Britpopper hatten mitunter keine Angst vor Krach. Wir wollen hier versuchen, den Kern des reinen Noises zu finden: Dreampop und Shoegaze sind Kategorien, denen wir uns später widmen werden, Grunge haben wir schon abgehandelt, und Alternative Rock wird auch noch seine eigene Schublade kriegen. Wie auch immer, es folgt großer, origineller und vor allem großartiger Noise Rock, immer versehen mit der Einschränkung, dass wir uns auf einem Spektrum befinden, dass Schubladen zwar nicht für die Tonne sind, aber auch nicht allzu ernst genommen werden sollten.

Deerhoof – The Man, the King, the Girl

(Kill Rock Stars, 1997)

Und um damit gleich mit dem rohesten, vielleicht auch authentischsten Noise Rock Album der Dekade zu starten, kommen wir auf das Debüt von Deerhoof zu sprechen. Auch wenn es in den späten 90ern veröffentlicht wurde, klingt wohl kaum ein anderer Output derart nach unverfälschtem, kompromisslosem Noise Rock wie „The Man, the King, the Girl“. Was Deerhoof hier fabrizieren, ist übelstes Lo-Fi Geschredder, bei dem keine Gefangenen gemacht werden, bei dem der ursprüngliche Rock N Roll Gedanke stets spürbar ist, aber durch Verzerrungen und Feedbacks bis zur Unkenntlichkeit zertrümmert wird. Dazwischen die verspielte, fast schon kindliche Stimme von Satomi Matsuzak, die jederzeit zu flüstern scheint „Keine Sorge, ich will nur spielen“, während im Hintergrund Rhythmen zerschlagen und Akkorde gesprengt werden. Damit bewegt sich dieser Punkrock/Noise/Experimental Bastard immer ganz knapp vor der Unhörbarkeit, gibt sich selbst als Herausforderung, als sadistische Quälerei, als kaputte Antimusik… und ist in alledem so verflucht echt, ungefiltert und wahnwitzig. „The Man, the King, the Girl“ ist kein leichtes Album, aber ein höchst befriedigendes und vermutlich ein Schock für all jene, die die späteren Deerhoof lieben.

The Jesus Lizard – Goat

(Touch and Go, 1991)

Eine andere Herangehensweise an den Noise-Gedanken servieren uns The Jesus Lizard, die zu den ersten großen Noise-Newcomern der ganz frühen 90er gehören. Goat ist alles andere als Lo-Fi: Getragen von einer unglaublich präzisen Produktion wird hier derber Rock N Roll praktiziert, der trotz all des Schmutzes, all der Grungyness und Verlorenheit auch immer ein Stück Größe in sich trägt. Ja, Goat ist nicht nur Krach in Reinkultur, sondern auch ein durchaus eklektisches Stück musikalischer Zeitgeist, der viel Punk mit sich herumschleppt, ordentlich mit dem Hardcore tanzt und hin und wieder sogar ein paar große Metalmomente einflechtet. Noise Rock ist ja tendenziell – zumindest was Gitarrenmusik betrifft – soweit vom Stadionrock entfernt wie kein anderes Rock N Roll Subgenre. Auf Goat kommt er diesem durchaus nahe, und sei es, um die Stadionbesucher mit wildem Krach gleich auch wieder aus diesem zu vertreiben. The Jesus Lizard sollten noch die ganzen 90er Jahre über präsent sein und später nicht nur bei Capitol landen sondern sogar mit Nirvana zusammenarbeiten. Bis zum heutigen Tag werden sie von vielen Grunge und Alternative Rock Bands zu den wichtigsten Ideengebern überhaupt gezählt.

Sonic Youth – Goo

(DGC, 1990)

Also dann… kommen wir doch zu den „Rolling Stones des Noise Rock“ (L.A. Times) zu sprechen. Goo aus dem Jahre 1990 stellt für Sonic Youth nicht weniger als ein Übergangswerk dar. Zwischen dem hochgefeierten Noise Rock Klassiker „Daydream Nation“ aus dem Jahr 1988 und dem Grunge / Alternative Rock Hit „Dirty“ aus dem Jahr 1992 verortet, ist Goo eine größtmögliche Annäherung des Noise Rock an Indie und Pop, ohne dabei auf Dreampop oder Shoegaze-Pfaden zu wandeln. Goo ist nicht einfach nur laut, sondern auch unheimlich elegant und charismatisch. Es steckt voller verzaubernder Melodien, ist entspannt und oft genug sogar eingängig. Es macht im Grunde genommen genau das, wozu der traditionelle Rock N Roll Gedanke geschaffen wurde: Die Leute zum Tanzen bewegen und dabei ungeheuer sexy sein und lässig aussehen. Wem die Sonic Youth der 80er zu aggressiv, zu aufgepeitscht und zu punkig sind, und wer gleichzeitig nicht viel mit der späteren, experimentellen Schlagseite der Band anfangen kann, der findet hier vielleicht genau sein Album. Und auch wer etwas Hemmungen hat, sich auf Noise Rock als Genre einzulassen, findet hiermit den perfekten Einstieg in die Welt des Krachs mit genug Pop drumherum, um nicht allzu spröde und widerborstig daherzukommen.

Cherubs – Heroin Man

(Trance Syndicate, 1994)

Und hier haben wir den radikalen Gegenentwurf zum Alternative Rock, Indie und Pop beeinflussten Noise Rock der Marke Sonic Youth. Cherubs haben mit Heroin Man 1994 eines der radikalsten Noise Alben der Dekade vorgelegt. Ihre zweite LP wird dominiert von ungeheurem Krach, der intensiv und roh aus den Boxen schallt. Alles klingt wie durch einen extremen, gnadenlosen Fleischwolf gedreht, Gitarre und Bass kaum auseinanderzuhalten, bewusst durch die Produktion zu einem höllischen Brei vermischt; dazwischen das derbe ungefilterte Geschrei von Owen McMahon, das Heroin Man zu einem intensiven, mitreißenden Erlebnis werden lässt. Nicht wenige würden Heroin Man als besten Beweis dafür heranziehen, dass Noise Rock als Genre an und für sich unhörbar ist, es lässt sich aber eben auch als besten Beweis dafür heranziehen, wie immersiv, wie emotional erschlagend das Genre sein kann. Ohne Kompromisse wird man hineingezogen in dieses antimusikalische Statement, das nicht mit Harmonien verzaubert sondern viel mehr mit tonnenschwerem Lärm verflucht, martert und quält, aber eben auch gerade dadurch nicht so schnell vergessen wird. Leider haben sich Cherubs noch vor Veröffentlichung des Albums getrennt, nachdem es nach einem Live Auftritt zu einem Streit und Kampf zwischen Musikern der Band gekommen ist… auch irgendwie konsequent, wenn man sich ihre Vorstellung von Musik anhört.

Butthole Surfers – Electriclarryland

(Capitol, 1996)

Und dann nochmal ein bisschen mehr Pop. 1996 waren die Butthole Surfers eigentlich schon ewig in der alternativen Rockszene unterwegs. Und wohl niemand – vor allem sie selbst – wäre jemals davon ausgegangen, dass sie irgendwann außerhalb der Nische Beachtung finden würden. Aber wir sind Mitte der 90er und da scheint alles möglich, nicht zuletzt Dank des „Your favorite band“s favorite band“-Phänomens. Durch den Erfolg Nirvanas sind die Butthole Surfers irgendwie unerwarteterweise doch in den Blick der Öffentlichkeit geraten, und mit ihrem siebten Album Electriclarryland haben sie dann auch irgendwie konsequent so sehr auf Pop gesetzt wie nie zuvor, inklusive Beavis and Butt-head Auftritt und One Hit Wonder Single mit dem verfluchten Ohrwurm Pepper. Electriclarryland verleugnet seine Noise-Roots nicht, baut aber um diese herum eine wilde Kulisse aus Alternative, Slacker Rock und artsy Rock mit Kobold-Attitüde. Im Gegensatz zu Sonic Youth ist ihre Erweiterung und Zerfledderung des traditionellen Noise Rocks nicht von Eleganz geprägt sondern von Spiel und Spaß, so dass sie nicht nur extrem hörbar sondern auch ungewöhnlich Teenager-kompatibel sind. Wer einen Beweis dafür braucht, dass Noise auch einfach nur Spaß machen kann, ist hier genau an der richtigen Adresse.

Drive Like Jehu – Drive Like Jehu

(Cargo, Headhunter, 1991)

Wer den Beweis braucht, dass Noise Rock zwischen all dem Krach auch emotional und bewegend sein kann, muss nicht weiter suchen. Auftritt Drive Like Jehu mit ihrem selbstbetitelten Debüt aus dem Jahr 1991. Enorm beeinflusst von alternativem Punk und Progrock-Pathos sind Drive Like Jehu hier nicht nur die emotionalsten Vertreter des Noise Rock Genres, sondern auch so etwas wie Vorreiter für alle möglichen Genres, die in den kommenden Jahren folgen sollten. In der Kombination aus emotionalem Metal und wütendem, verzweifelten Geschrei haben wir Proto Post Hardcore vor uns, auch schon eine Vorahnung von Emo der 2000er Ausprägung, wir erleben verschwurbelte Mathrock-Momente, die deutlich experimenteller und komplexer daherkommen als die Noise Konkurrenz, wir finden Postrock-Antizipationen und modernen Punk jenseits von Skate, Surf, Sonnenschein. Vor allem ziehen Drive Like Jehu auf ihrem ersten Album aber ihr eigenes Ding durch, komplett losgelöst von Genregrenzen und Schubladen und dabei wirklich ans Herz gehend.

Melvins – Houdini

(Atlantic, 1993)

Genretechnisch all over the Place sind auch die Melvins, die 1993 schon auf eine lange Geschichte zurückblicken. Folgerichtig ist Houdini auch nicht ihr erstes Auftauchen in den hiesigen Bestenlisten. Auch auf ihrem fünften Studioalbum spielt die Band um Buzz Osborne eine wüste, undefinierbare Mischung aus alternativem Rock, experimentellem Avantgarde und tonnenschwerem Metal, und wie auf ihren anderen Outputs kann man das gut und gerne auch als Sludge Metal, Grunge oder gar Doom Metal bezeichnen, was hier zu hören ist. Aber, die Melvins passen mit ihrem elegischen und zugleich verspielten Krach eben auch perfekt zum Noise Rock, wahrscheinlich in seiner metalligsten und düstersten Ausprägung. Houdini ist gewaltig, sadistisch, dunkel und böse, zertrümmert Trommelfelle, frisst kleine Kinder und predigt dabei immer Lautstärke, Lautstärke, Lautstärke. Ein wundervolles Exempel dafür, wieviel Metal im Noise Rock möglich ist, und wie auch in einer fokussierten Rifflandschaft Krach immer noch so dominant sein kann, dass keine Langeweile und Bräsigkeit aufkommt.

Slug – Swingers

(Magnatone, 1992)

Aber ja… zu fokussiert soll es nicht werden. Noise Rock soll doch vor allem primitiv, Lo-Fi und chaotisch sein. Und all das wird wohl nirgends so schön miteinander vereint wie beim Debütalbum der Slugs, Swingers. Was hier über uns drüberrauscht, klingt nicht nach einer Band sondern viel mehr nach einer bizarren Geräuschwerkstatt der Marke Frankenstein. Slug mischen elektronische Störgeräusche mit allerlei Soundeffekten, Samples und merkwürdigen Feedbackschleifen, um dann irgendwo dazwischen auch so etwas wie rockige Sounds zu platzieren. Das klingt dann nach der bestmöglichen Verbrüderung von Noise und Noise Rock, so als würde jemand Lou Reeds Metal Machine Music auseinandernehmen, um darin doch irgendwie Songs zu entdecken, so als würde Merzbow mit vorgehaltener Knarre gezwungen werden, Hooklines zu schreiben, oder eben auch so, als müssten Sonic Youth ihre Songs ein paar Mal durch den Schredder und Kompressor jagen. Swingers ist deswegen so einzigartig, weil sich nirgendwo sonst der Noise Rock derart hart auf reinen Klang und pures Geräusch reduziert. Das ist an der Grenze zum Hörbaren und auch an der Grenze des Genres, aber eben doch rockig und rhythmisch genug um mehr zu sein als purer Noise. Slug sind ein faszinierendes Beispiel dafür, wie weit krachfokussierte Musik gehen und sich dennoch ihren musikalischen Charakter bewahren kann. Wem das immer noch zu poppig zu rockig und zu melodisch ist, der muss dann wohl gezwungenermaßen zu Maurizio Bianchi greifen.

Bands/Künstler_Innen: Butthole Surfers, Cherubs, Deerhoof, Drive Like Jehu, Melvins, Slug, Sonic Youth, The Jesus Lizard, | Genres: Alternative Metal, Alternative Rock, Doom Metal, Noise-Rock, Rock, | Jahrzehnt: 1990er,


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