Die besten Grunge Alben der 90er Jahre I: Before Nevermind
Für viele beginnt die Rockdekade der 90er Jahre im Jahr 1991. Und es spricht in der Tat vieles dafür die Veröffentlichung von Nirvanas Nevermind im September dieses Jahres als Meilenstein und Initialzündung für alle kommenden Rock-CDs zu sehen: Grunge war plötzlich das Stichwort der Stunde und sollte zumindest in der ersten Hälfte des Jahrzehnts die Musiklandschaft dominieren. Zudem bedeutete der Hype um den Seattle Sound die Mainstreamisierung des Indie- und Alternative Rock und führte dazu, dass plötzlich zahllose Punk-, Hardrock- und Metal-Variationen altbacken oder gar bieder wirkten. Ohne Nirvanas Überalbum hätte sich die Rockmusik der letzten Jahrzehnte komplett anders entwickelt: Teenage Lust und Teenage Angst bekamen einen prominenten Platz in der härteren Rockmusik, folgende Genres wie der spät 90er Alternative Rock, Nu Metal, Emo und der Garage Rock der frühen 2000er Jahre hätten wohl nie eine solch große Bedeutung erhalten (oder gar nicht erst stattgefunden), und MTV wäre nie zum Spielplatz vermeintlicher Außenseiter geworden. Dank des Grunges durfte Rock auch im Mainstream wieder dreckig, hässlich, verzweifelt, ungestüm und wild sein.
Aber wie alle anderen (musikalischen) Spielarten hat auch dieser Hype eine Vorgeschichte. Bevor Grunge Feuilleton- und Publikumsliebling war, hatte er sich im Untergrund einen gewissen Status als neue Stoßrichtung härterer Musik erspielt, und Seattle war schon vor Nevermind ein Epizentrum des Indie Rock. In dieser 90er Bestenliste wollen wir uns die Bands und Alben anschauen, die ein bisschen früh dran waren und erst posthum vom Grunge-Boom profitieren konnten. Dabei kommen sowohl Bands, die in der Peakzeit des Grunges bereits nicht mehr existierten wie Green River oder Mother Love Bone zu Wort, als auch Bands, die mit späteren Veröffentlichungen auf dem Hype-Zug mitfahren durften, namentlich Alice in Chains und Screaming Trees. Die Melvins standen mit ihrem speziellen Sound schon immer irgendwie außerhalb jeder Kategorie, dürfen aber allein qua Herkunft in dieser Bestenliste auftreten und L7 retten ne Menge Punk-Vibes in den jungen Seattler Sound… Und Mudhoney sind so gut, dass man sich durchaus die Frage stellen darf, warum ihre 1991er Großtat nicht die selbe Aufmerksamkeit bekam wie die Kurt Cobains.
Green River – Dry as a Bone/Rehab Doll
(Sub Pop, 1990)
Okay, genau genommen haben wir es hier nicht mit einem genuinen Album zu tun, sondern viel mehr mit einer Compilation und einem Rerelease von 80er Jahre Veröffentlichungen. Aber Green River sind einfach zu einflussreich auf den Seattle Sound, als dass sie hier übersprungen werden sollten. Zusammengeworfen werden hier ihre EP Dry as a Bone (1987) sowie ihr einziges Full Length Album Rehab Doll (1988). Bereits zu Veröffentlichung dieses Albums hatte sich die Band hauptsächlich wegen künstlerischer Differenzen zerstritten und ihre Mitglieder hatten sich anderen Bands angeschlossen, beziehungsweise neue Gruppen formiert. Was aber von Green River ewig bleiben wird ist dieser Zusammenschluss von EP und LP, dieser „ultra-loose GRUNGE that destroyed the morals of a generation“ (Sub Pop), der traditionellen harten Blues Rock mit Punk, Noise und sogar experimentellen Psychedelic Sound kreuzt. Dry as a Bone/Rehab Doll ist ein perfektes Beispiel für die Sturm und Drang Ära des Grunges, ein zerfahrenes Werk, das sich nie so ganz entscheiden kann, ob es nun Metal oder Slacker, Verzweiflung oder Spaß sein will. Im besten Sinne des Wortes ungestüm, dreckig, verlottert, mit ner Menge Groove an Bord, verworren im Ansatz, heftig in der Ausführung. Es fällt nicht schwer, darin vieles zu sehen, was auch später Nirvana und Konsorten auszeichnen sollte. Und zugleich ist das definitiv mehr als ein historisches Dokument; nämlich erstklassiger schmutziger Indie Rock mit ner Menge Attitude, Sex Appeal und zynischer Verlorenheit.
Mother Love Bone – Apple
(Stardog/Mercury, 1990)
Mehr als ein Album konnten die kurzlebigen Mother Love Bone leider auch nicht veröffentlichen. 1988 unter anderem von den ehemaligen Green River Musikern Jeff Ament, Bruce Fairweather und Stone Gossard, fand die Gruppe bereits im Frühjahr 1990 ein tragisches Ende, als ihr Frontmann Andrew Wood an einer Überdosis Heroin verstarb. Wie bei Dry as a Bone/Rehab Doll haben wir mit Apple also ein posthumes Werk vor uns, allerdings zeitlich deutlich näher an der Bandexistenz und mit deutlich traurigerem Kontext. Und dennoch ist Apple ein gutes Stück weg von der Verzweiflung der Green River Compilation. Im Gegensatz zu anderen Seattle Releases ist dieses Album signifikant näher an der Rockgeschichte und am traditionellen Hard Rock. Ähnlichkeiten mit Led Zeppelin und Aerosmith sind auszumachen, wer richtig gehässig sein will, kann wohl auch ein wenig Guns N Roses in diesem bluesigen Stück härter Musik ausmachen. Abgesehen davon, dass Apple ein grundsolides Rockwerk ist, taugt es somit vor allem auch als Blaupause für den zweiten Strang der Grunge-Szene, der sich stärker an klassischem Hard Rock orientierte, in erster Linie Pearl Jam, die im Jahr 1990 von den Mother Love Bone Mitgliedern Jeff Ament Stone Gossard gegründet werden sollten.
Alice in Chains – Facelift
(Columbia, 1990)
Okay, die Blues- und Hardrock- sowie die Punk-Wurzeln des Genres hätten wir damit abgehandelt. Was fehlt ist der Metal. In der Tat hat der Grunge sich eine Menge vom Thrash und Heavy Metal der 80er Jahre entliehen. Weniger die ausufernden Soli und komplexen Kompositionen, wie sie insbesondere bei den Masters of Puppets Metallica zu finden waren, als viel mehr die harten Riffs, die staubtrockene Attitüde und die Freude an ausufernder musikalischer Aggressivität. All das findet man im Alice in Chains Debütalbum Facelift, das mit seinem wabernden Sound, seiner düsteren Grundstimmung und seiner Atmosphäre vor allem an die Großtaten von Black Sabbath erinnert, aber auch viel mit dem damals ebenfalls jungen Stoner und Desert Rock gemein hat. Alice in Chains nur auf ihre Metal Wurzeln zu verkürzen, würde der Band und diesem großartigen Album aber unrecht tun: Zusätzlich ist Facelift nämlich auch mit Blues versetzt, versprüht hin und wieder regelrechte Funk Vibes, badet sich relaxt in Sludge Metal Schlamm und groovt durch und durch. Drummer Sean Kinney hat es in einem Interview 2013 wohl am besten auf den Punkt gebracht, als er feststellte: „Before they invented the word grunge we were alternative rock and alternative metal and metal and rock, and we didn’t give a shit whatever, we were a rock and roll band!“. Alice in Chains Facelift ist letzten Endes pure genius hard Rock N Roll. Egal in welche Schublade man es auch stecken will.
Melvins – Bullhead
(Boner, 1991)
Wenn es schon fraglich ist, ob man Alice in Chains einfach so das Grunge-Label aufdrücken darf, fällt es bei den düster zynischen Wirrköpfen Melvins nochmal eine ganze Ecke schwerer. Also, was spricht dafür, dass sie hier auftauchen? Das Lokalkolorit einer Seattler Band? Die Tatsache, dass Drummer Dale Crover 1988 auch bei Nirvanas erstem Demotape an den Drums sitzen durfte? Kurt Cobain, der seine spätere Popularität nutzte, um ähnlich für die alles andere als massenkompatiblen Melvins die Werbetrommel zu rühren (und ihnen damit zu unerwartetem Ruhm verhalf)? Okay… springen wir mal weg vom Kontext und stellen erst einmal fest, dass Bullhead ein verflucht gutes Album ist. Irgendwo zwischen Doom und Sludge Metal, mit einem ähnlich betörenden Groove wie der von Alice in Chains, nur eben deutlich tiefer, höllischer, nebulöser und einfach bösartiger. Und dann haben sie eben doch auch diese halb ironische, halb zynische Verzweiflung, diese Mischung aus Bitterness und Rebellionswillen, diese Attitüde zwischen Langeweile und brausendem Temperament, die man bei vielen Grunge-Alben der kommenden Jahre finden wird. Melvins, Grunge? Ja, meinetwegen ein Streitfall. Nichtsdestotrotz sollte man sich Bullhead auf keinen Fall entgehen lassen.
L7 – Smell the magic
(Sub Pop, 1990)
Auf der Suche nach der politischen Seite des Grunges stößt man früher oder später immer auf L7. Kein Wunder, hatte Gründungsmitglied Suzi Gardner doch schon in den frühen 80er Jahren als Back Vocalist für Black Flag tief im Punk Zeitgeist des Jahrzehnts performt. Zusammen mit Donita Sparks fand sie aber ihren eigenen Sound, der die Punk Roots zwar nicht ganz verleugnet, aber deutlich offener Richtung Heavy Metal und Blues Rock agiert. Geblieben ist aber die politische Schlagseite. L7 spielen eine wilde Mischung aus Agitrock und Grunge, sind oft roh und dreckig und finden trotzdem immer den richtigen Punkt für ins Ohr gehende und tanzbare pogobare Hymnen. Ihr Sub Pop Debüt Smell the magic lebt vor allem von der unfassbaren Energie und Geschwindigkeit, die diese Hymnen auf ihrem Weg entwickeln. Angepeitscht von den markanten wütenden Stimmen von Gardner, Sparks und Bassistin Jennifer Finch ist Smell the Magic wie eine Achterbahnfahrt von den 80er Jahren direkt hinein in den Zeitgeist der 90er.
Screaming Trees – Uncle Anesthesia
(Epic, 1991)
Mark Lanegans Screaming Trees waren auch schon einige Zeit im Seattler Underground unterwegs, als sie im Januar 1991 die Gelegenheit bekamen auf dem großen Label Epic zu veröffentlichen. Das unter der Produktion von Soundgarden Mastermind Chris Cornell entstandene Uncle Anesthesia ist vielleicht so was wie die erste große Annäherung des Seattler Grunge an ein Mainstreampublikum. Gut ein halbes Jahr vor dem Einbruch Seattles in die Popwelt durch Nirvanas Nevermind, finden wir hier schon etwas wie eine Symbiose an eingängigem Rock, MTV Appeal und der ungestümen Seite des Seattler Underground Rock. Uncle Anesthesia liefert uns so manchen Ohrwurm, so manchen epischen Stadion Rock Moment, aber es zerfließt auch in psychedelischen Soundeskapaden, flirtet mit Punk und Post Punk und kommt dabei herrlich schnodderig und zurückgelehnt daher. Es ist vielleicht schon so eine kleine Vorahnung, dass diese verrückten Bands mehr können als Demotapes in Garagen aufzunehmen und in dunklen Hinterhöfen zu jammen… vielleicht ein erster Funken Richtung Pop, der bereit ist entzündet zu werden. Und der Rest ist Geschichte.
Mudhoney – Every Good Boy Deserves Fudge
(Sub Pop 1991)
So… jetzt stehen wir aber wirklich ganz kurz vor der Explosion des Hypes. Es ist Sommer 1991, Nevermind wird in zwei Monaten veröffentlicht und im Handumdrehen die Musikwelt verändern. Und kurz davor erscheint ein Album, das mindestens genau so einen Platz in den Annalen der Musikgeschichte verdient hätte. Dass Mudhoney einen enormen Einfluss auf den Grunge-Sound der 90er Jahre hatten, ist mittlerweile ja Konsens. Gerne wird dabei ihre 1988er EP Superfuzz Bigmuff ins Feld geführt, von der Kurt Cobain bekennender Fan war. So stark diese auch ist, wage ich an dieser Stelle doch mal die Behauptung, dass Every Good Boy Deserves Fudge das Meisterwerk dieser Proto-Grunge Combo ist. Und nicht nur das, hier haben wir in der Tat eines der Top 10 Grunge Alben überhaupt vor uns. Mudhoney haben innerhalb weniger Jahre enorm viel an ihrem Sound gedreht und optimiert. Herausgekommen ist eine fantastische Mischung aus traditionellem Punkrock, der jedem Clash-Fan die Tränen in die Augen treiben dürfte, rauem Metal, eine Menge Blues und einer Attitüde die ständig zwischen Verzweiflung, Ironie und Sarkasmus pendelt. Vielleicht sogar das Album, das den 90er Jahre Rock-Zeitgeist von allen Grunge Alben am besten antizipiert.
Bands/Künstler_Innen: Alice in Chains, Green River, L7, Melvins, Mother Love Bone, Mudhoney, Screaming Trees, | Genres: Alternative Rock, Grunge, Metal, Noise-Rock, Rock, | Jahrzehnt: 1990er,
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