Hinter dem Rauschen… Rezension zu 65daysofstatic – We were exploding anyway
65daysofstatic waren schon immer die Elektroniker unter den aktuellen Postrockern. Auf ihrem neuen Album We were exploding anyway gehen sie noch einen kleinen Schritt weiter und sprengen damit das Genre komplett auf. Ist das überhaupt noch Postrock? kann man sich da schon fragen, wenn die Beats zeitiger sind als die Streicher und Gitarren. Ist das überhaupt noch Postrock? kann man sich fragen, wenn es pulsiert und treibt, wenn es sich selbst zerfleischt im elektronischen Klangtumult. Ist das überhaupt noch Postrock? Oder nicht eher Post Electronica? Post House? Post Trance? Post Techno? Post Industrial? Jedenfalls nach irgendetwas scheint es zu sein… nach was auch immer…
Es klackert und wabert in Songs wie dem Opener Mountainhead oder dem technoiden weak4. 65daysofstatic haben sich komplett von dem Postrock-Stil verabschiedet, der nach den Erfolgen von Godspeed You! Black Emperor in Mode gekommen war. Sprich: Das sphärische, langsam aufgebaute, monotone, von seiner eigenen Langsamkeit lebende Instrumental ist auf diesem Album nicht zu vernehmen. Es darf durchaus darüber spekuliert werden, ob der Postrock in die viel beschworene stagnative Krise hineinrutschte, weil ziemlich alle Bands des Genres dem langsamen, atmosphärischen Stil der kanadischen Vorzeigeapokalyptiker hinterhetzten. 65daysofstatic liefern mit diesem Album jedenfalls einen wesentlichen Teil zum derzeitigen Befreiungsschlag des Genres. Postrock will keine sich sacht entwickelnde Filmmusik mehr sein, will nicht mehr in zurückhaltenden Moll-Akkorden in sich stetig entwickelnde Streichteppichen sinken. Bei 65daysofstic geht die instrumentale Musik nach dem Rock direkt ans Eingemachte, will aufsteigen, direkt hinein ins Kleinhirn wo es manisch vor sich hinzucken kann. In Go Complex dürfen dann auch ganz ungeniert synthetische, bis zur Unkenntlichkeit verzerrte Gitarren sägen und brechen, und auf kommende Post Industrial Eruption hinarbeiten, während bei Debutante echte und synthetische Drums gegeneinander um den richtigen Rhythmus kämpfen, und dabei von instrumentalen Chorälen stetig umnebelt werden.
We were exploding anyway ist ständig in Bewegung, ist vertonter Vitalismus ohne Atempause. Das erstaunliche: Die Atmosphäre ist trotzdem stimmig. Obwohl selbst in den ruhigen Momenten alles wabert und pluckert, obwohl das Elektrogehetze nie wirklich zur Ruhe kommt, gelingt es den kalten, scharfen und synthetischen Soundfetzen immer wieder den Hörer hinabzuziehen und tief unten fest zu halten. Tatsächlich erinnert diese Form des hedonistischen, rauschenden Postrocks an die Anfangstage des Genres: Im elektronisch verzerrten Instrumentalgewitter huschen Tortoise und American Don vorbei, um an die Überwindung der Rockmusik in den frühen 90ern zu gemahnen. Retrospektiv und nostalgisch ist We were exploding anyway dennoch nicht. Durch die Überwindung des ambientiösen Primates haben 65daysofstatic etwas neues, eigenständiges geschaffen. Das harte Beatgewitter, die düsteren Synthiestacheln, das futuristische Dröhnen… all das klingt in den besten spannendsten Momenten wie aus einer weit entfernten Epoche… weit in der Zukunft liegend wohlgemerkt. Daran kann auch der Gastauftritt von The Cure Sänger Robert Smith nichts ändern, dessen Stimme in Come to me so oft durch den elektronischen Verstärker gejagt und mit Soundspuren überlagert wird, bis sie jede Menschlichkeit verloren hat.
Da scheinen dann auch plötzlich programmatisch plakative Songtitel wie „Dance, Dance, Dance“ oder „Piano Fights“ alles andere als fehl am Platze. Immerhin ist die rauschende Fusion aus Postrock, Dance, Techno und elektronischem Noise-Gewitter genau der hedonistische Paukenschlag, den das Genre schon lange brauchte. 65daysofstatic haben ihre Fesseln als Postrockband mit Elektronikeinflüssen abgelegt. Sie haben etwas genuin Neues erschaffen, das direkt am Puls der Zeit sitzt und diesen mit atemlosen Schlägen vorantreibt. Schweißtreibende, manische, vitalistische Musik, die mehr verdient als das Label Postrock: Post Electro, Post Industrial, Post Techno…? Vielleicht einfach nur Post Musik, die berauscht vom eiskalten Dauerfeuer ihrer Töne den Hörer direkt gen Apokalypse treibt.
Bands/Künstler_Innen: 65daysofstatic, | Genres: Electro, Post-Rock, | Jahrzehnt: 2010er,