Die besten Postrock-Alben der 90er Jahre I

Okay… machen wir uns nichts vor. Die 2000er sind DAS Jahrzehnt des Postrock. Hier wurden die Meilensteine produziert, hier erhielt das Genre seine endgültige Form und seinen endgültigen Charakter, hier machte es sich – wenn auch nur für einen sehr kurzen Zeitraum – auf, die Feuilletons und Musikmagazine zu erobern. Dabei vergisst man allerdings sehr leicht, dass das Genre im Grunde genommen in den 90ern geboren wurde. Klar, wenn man besonders historisch sensibel ist, kann man die ersten Auswüchse im Postpunk der 80er oder gar im erweiterten Prog- und Space Rock der 70er ausmachen, aber die ersten richtigen Lebenszeichen zeigte diese Mischung aus Komposition und Redundanz, aus Monotonie und ekstatischen Eruptionen in den 90ern. In diesem Jahrzehnt entstanden Tortoise und wurden zu Legenden, in diesem Jahrzehnt durften Mogwai ihre ersten Gehversuche unternehmen, ebenso GY!BE und Sigur Ros, nicht zu vergessen die Genre-Prototypen von Talk Talk und Bark Psychosis. Ein guter Grund, sich die Apokalypse dieses Rockjahrzehnts genauer anzuschauen.

Tortoise – Millions Now Living Will Never Die

(Thrill Jockey 1996)

Das zweite Studioalbum von Tortoise ist keineswegs das erste Postrock-Album der 90er Jahre, und doch fühlt es sich mit jedem Hören erneut genau so an. Die Stücke bauen sich ganz zärtlich, verspielt und pittoresk auf, um dann bei intensiven, jazzigen, von Ambientklängen durchflossenen Todesballaden zu landen. Kaum ein Album war derart einflussreich für das Genre wie das Mammutwerk der Schildkröten. Angefangen beim 20minütigen Easy Listening till the End of the World Epos Djed bis zum kühl erotischen Post Jazz Tribut Along the Banks of Rivers. Die Songs fließen, die Songs atmen und leben und reißen ihren Hörer mit auf eine relaxte und zugleich intensive Reise in eine postindustrielle, entspannte und zugleich angespannte Ideenfabrik.

Tortoise – TNT

(Thrill Jockey 1998)

Wäre Postrock ein bisschen populärer, gäbe es wohl großartige Fan-Diskussionen, welches nun das bessere Tortoise-Album ist. „Millions Now Living Will Never Die“ oder der Nachfolger TNT? Wenn man mich fragt, würde ich immer zu dem minimalistischen Sprengsatz tendieren. Das liegt aber auch schlicht daran, dass wir hier wohl mein erstes richtiges Postrock-Album vor uns haben. Damals eher angefixt von dem obskuren Coverartwork bin ich mit dieser LP zum ersten Mal in den postrock’schen Soundlandschaften versunken, die so komplett anders klangen, als alles was ich als 16jähriger Bub bis dato kannte. Daraus entwachsen ist eine innige Liebe zu diesem konfusen, aber auch zugleich organischen, vitalen Soundungetüm, das sich nicht geniert, sich bei Easy Listening zu bedienen, um gleichzeitig alles zu zertrümmern, was leicht zu hören ist. TNT ist ein kleiner gefräßiger Kobold, zwischen Jazz, Ambient, Lounge und zersplittertem Rock N Roll. Für mich immer noch eines der prototypischen Postrock-Alben und eines der großen Meisterwerke der 90er schlechthin.

Slint – Spiderland

(Touch & Go 1991)

Von meinem persönlichen Postrock-Prototypen zu einem der Wegbereiter des Genres. Slint kommen eigentlich aus der Hardcore-, Punk und Alternative Rock Ecke, zelebrieren auf Spiderland allerdings einen Sound, der radikal mit dem damaligen Indie-Standard bricht und sich zwischen Spoken Words und Shouts in epischen Soundungetümen verliert. Kein Wunder, dass Spiderland trotz seiner Nähe zum Sound des Grunge zu den Klassikern des Postrock zählt und auch gerne als Inspirationsquelle für Bands wie GY!BE oder Mogwai herbeizitiert wird. Dabei besitzen die Slint’schen Kompositionen noch eine herrlich dreckige, ungehobelte Note, wollen nie zu monumental klingen, sondern auch immer spröde, schmutzig, so als würden sie direkt von der Straße stammen. Dadurch ist Spiderland vielleicht das ungezwungenste und undogmatischste Postrock-Album des Jahrzehnts.

Talk Talk – Laughing Stock

(Polydor 1991)

Haben wir es hier vielleicht? Das Postrock-Debüt der 90er? Der geistige Vorgänger Spirit of Eden kam dafür auf jeden Fall etwas zu früh (1988), dürfte an dieser Stelle aber gut und gerne als Mit-Inititalzündung des Genres genannt werden. Im Grunde genommen bilden diese beiden Art Pop Meisterwerke ohnehin ein unwiderstehliches Zwillingspaar, das schon vieles besitzt, was den späteren prototypischen Postrock ausmachen sollte und dennoch irgendwie zwischen den Genres mäandert. Mark Hollis‘ fragiler Gesang durchzieht dieses zersplitterte Epos wie ein roter Faden, gibt ihm einen Hauch von Pop, einen Hauch von Soul (Ja, wirklich!) und natürlich viel Spirit des Neo Prog der 80er Jahre. Doch wie großartig wird dieses Meisterwerk, wenn es den Gesang seines Mastermindes praktisch verschluckt und sich einfach nur noch dem eigenen Soundreigen hingibt! Dann umspielen Piani dunkle Bassläufe und monotone Drum-Mantren, dann erklimmen ekstatische Gitarrenakkorde neue musikalische Höhen und all der Schmerz, die Zerbrechlichkeit und Verlorenheit der Hollis’schen Lyrics lösen sich in traumhaftem Wohlgefallen auf. Gigantischer Postrock fürwahr und seiner Zeit weit voraus.

Sigur Rós – Ágætis byrjun

(Smekkleysa 1999)

Vielleicht so etwas wie die junge Schwester von Laughing Stock. Zumindest scheinen die beiden Alben eine Klammer um das gesamte Postrock-Jahrzehnt zu bilden. Auf jeden Fall ist das komplett auf isländisch gesungene Ágætis byrjun ähnlich wie das Talk Talk Meisterwerk so etwas wie ein emotionaler Kontrapunkt zum sonst oft kalt, spröde und experimentell wirkenden Postrock-Kaleidoskop: Mit einem Cellobogen gespielte Gitarren, zahllose Folk-Elemente, sakrale Klangteppiche, bei denen sich der Hörer nie ganz sicher ist, ob sie nun himmlisch oder außerirdisch klingen, und von allem durchflossen, diese wundervolle engelsgleiche Stimme von Jónsi, die jeden noch so düsteren Moment mit fast schon naiver Herzlichkeit zu zerreißen vermag. Ob Ágætis byrjun nun tatsächlich bloß die absolut kitschige Inkarnation des Genres ist oder doch ein gut getarnter, dämonischer Troll, der sich hinter sanften Klängen versteckt? Bis zum heutigen Tag bin ich mir nicht sicher: Aber dieses göttliche Album wirkt auch noch15 Jahre nach seinem Entstehen und ist immer noch für tausende Gänsehautmomente gut.

Bark Psychosis – Hex

(Circa 1994)

Zumindest in den 90ern ist die entscheidende Frage des Genres nicht „Ist das noch Postrock?“ sondern viel mehr „Ist das schon Postrock?“. Bark Psychosis verhehlen nie ihre Einflüssen vom Art Pop nach Talk Talk Manier, 80er Post Punk und Indie sowie des Goth Rock. Und doch zaubern sie mit all diesen Zutaten etwas Eigenes, Eigenständiges, das sich weit über seine Vorbilder hinaus in experimentelle Soundeskapaden versteigert. Dabei sind sie sowohl eklektisch als auch fokussiert. Emotional, verspielt und dann wieder eiskalt, ständig dem roten Faden folgend und diesen immer wieder zertrümmernd. Ihre Stücke bewegen sich faszinierend ambivalent zwischen Song und Komposition, zwischen Moderne und Postmoderne und kreieren dabei einen Sound, der praktisch zeitlos ist. Kein Wunder, dass sich zahllose Art Rock Acts des 21. Jahrhunderts von dieser verzauberten Mischung beeinflussen ließen. Achja und en passant haben die Briten mit diesem Album – mit Hilfe von Simon Reynolds – noch dazu beigetragen, den Post-Rock-Begriff zu popularisieren. Pflichtprogramm für jede lückenlose Postrocksammlung.

Labradford – A stable reference

(Kranky 1995)

Gerne wird dem Postrock ja pauschal der Vorwurf gemacht monoton und dadurch langweilig zu klingen. Beim oberflächlichen Hören von Labradfords Mitte-90er Ungetüm A stable reference scheint dieser Eindruck bestätigt. Labradford SIND langsam, Labradford SIND monoton und Labradford sind mit Sicherheit nicht die Speerspitze des enervierenden Postrock. Dafür hat dieses Album aber andere Qualitäten: Als langwieriger, hypnotischer Traum, als fesselnder, unentrinnbarer Albtraum, als Soundregen zwischen Fragilität und strapazierfähiger Annäherung an der musikalischen Nullpunkt. Dabei ist a stable reference so etwas wie die lichte Kehrseite düsteren Doom– und Drone-Metals, der Kontrapunkt zu ausuferndem Experimental und gleichsam Ambient, der niemals kitschig oder pittoresk klingt. Ein morbide erotisches, einmaliges, einsames Musikerlebnis, perfekte Untermalung für das eigene lyncheske Kopfkino.

Cul de Sac und John Fahey – The Epiphany of Glenn Jones

(Thirsty Ear 1997)

Die Wildcard im Postrock-Kompendium der 90er Jahre: Was passiert, wenn eine der großen Songwriter und Blues Legenden zusammen mit einer Experimental Band ein Album aufnimmt? Ganz und gar unglaubliches. John Fahey, der von den Indie Rockern der 80er und 90er Jahre wiederentdeckt wurde und dadurch auch die wohl längst anhaltende Schaffenskrise der jungen Musikgeschichte überwinden konnte, begibt sich ins Studio mit den avantgardistischen Klangkünstlern von Cul de Sac und lässt sein famoses zurückhaltendes Gitarrenspiel von deren Soundeskapaden unterlegen… und zwar ohne, dass sich ihre so verschiedenen Herangehensweisen an Musik gegenseitig absorbieren würden. Stattdessen spielen sie miteinander, gegeneinander, befeuern sich und halten sich gegenseitig zurück… und heraus kommt eine der atemberaubendsten Musikkollaborationen des Jahrzehnts. The Epiphany of Glenn Jones ist ein düsteres, verworrenes und diversifziertes Stück Musik, das sich hinter Konfusion versteckt, um ganz sachte die Eheschließung zwischen Americana und Experimental zu zelebrieren. Musik für die Heimatlosen, Verwirrten und Zurückgelassenen, Postrock geboren aus der Fusion von Tradition und Destruktion.

Mogwai – Mogwai Young Team

(Chemikal Underground 1997)

Natürlich führt bei den besten Postrock-Alben kein Weg an Mogwai Young Team vorbei. Die schottische Version des Postrock-Sounds ist dabei schon fast so etwas wie der Pop des Genres. Dabei sind Mogwai keineswegs erpicht darauf, klassische, eingängige Radiosongs zu schreiben… Aber was besitzen ihre genialen Kompositionen für Ohrwurmqualitäten! Im Gegensatz zu vielen anderen Genrevertretern pfeifen Mogwai nicht auf Melodie und Musikalität, stattdessen leben ihre Kompositionen geradezu davon sich in rockigen, lebendigen Akkorden wohlzufühlen, nicht nur den Kopf sondern ebenso auch das Herz anzusprechen, nicht nur monotone Streicheleinheiten für den eigenen Pessimismus zu sein, sondern darüber hinaus die Seele zu kitzeln, bis man sich ein breites Grinsen nicht mehr verkneifen kann. In einer guten, in einer besseren Welt würden diese Glanztaten im Radio rauf und runter gespielt werden und Rocker, Popper und Punker zum gemeinsamen apokalyptischen Schunkeln einladen.

Stars of the Lid – Gravitational Pull vs. the Desire for an Aquatic Life

(Sedimental 1996)

Wahrscheinlich die radikalste Ambient- und Drone-Umarmung, die es in dem Genre zu finden gibt: Die Klangteppiche von Stars of the Lid sind düstere, abstrakte Bekenntnisse zum Klang und fundamentale Kämpfe gegen ureigenste Musikprinzipien. So ein wenig als hätte John Cage vorbeigeschaut, um dem Genre seinen Stempel aufzudrücken, und selbst zwischen all den schwierigen, komplexen Kompositionen des Genres eine Ausnahmeerscheinung. Postrock, der den Rock ganz tief vergraben hat und nun auf seinem Grab einen letzten Wehgesang verlorener Musikalität zum besten gibt. Herausfordernd, anstrengend, die Nerven strapazierend, dabei aber ganz und gar ungewöhnlich eine fantastische Soundlandschaft kreierend.

The Notwist – Shrink

(Zero Hour 1998)

…Uuuuunnnd… POP! War es denn wirklich nötig, die deutschen Indie Rocker The Notwist hier aufzunehmen? Ja, verdammt! Denn Shrink steht sowohl national als auch international wie kaum ein anderes Album dafür, wie Postrock entsteht, wenn die eigene Rock/Experimental/Punk-Vergangenheit reflektiert und in der Reflexion aufgelöst wird. Klar, The Notwist liefern hier alles, was dem Postrock vermeintlich zuwider läuft: Songs, Strukturen, Rock-Melodien… und viel Pop. Aber ehrlich, hört euch das Album mal unter dem Label eines Postrock-Albums an. Das eröffnet ganz neue Sichtweisen aus diese famose Kombination aus Electro, Rock, Pop, Jazz und Sound. Shrink ist bestimmt kein prototypisches Postrock-Album, dabei aber das Musterbeispiel einer musikalischen Horizonterweiterung durch Dehnung, Verlangsamung, Dynamisierung und Auflösung, in der aus Rock Postrock, aus Pop, Postpop und aus Punk Postpunk wird. Damit ist es vielleicht auch einfach das ideale Einstiegsalbum für den Postrock, oder eben perfektes Exempel für die Genese des Genres, für seine Offenheit und seinen Variantenreichtum. Gebt diesem Meisterwerk aus diesem Gesichtspunkt ruhig noch einmal eine zweite Chance. Dass es qualitativ – unabhängig von seiner Schublade – ganz ganz groß ist, steht ohnehin außer Frage.

Godspeed You! Black Emperor – F♯A♯∞

(Constellation 1996)

Und dann klopften – bereits Mitte der 90er – die 2000er an der Tür. Das Mammutwerk F♯A♯∞ von GY!BE war seiner Zeit mindestens genau so weit voraus wie die diversen Postrock-Prototypen zu Beginn des Jahrzehnts. Die Kanadier lassen sich hier zweifellos vom noch sehr arty, krautisch proggigen Postrock der Dekade inspirieren, gehen aber im Gegensatz zu Bands wie Tortoise nicht den Weg der wabernden vom 70’s Rock inspirierten Komposition, sondern werfen sich vollends in die Arme der modernen Klassik, um Rock zu produzieren, der so überhaupt nicht mehr nach Rock klingt, Filmmusik, die sich kaum von einer Filmhandlung bändigen ließe (auch wenn Danny Boyle später mit 28 Days Later das Gegenteil beweisen sollte) und ein Kopfkino, das einzig darauf ausgerichtet ist, den Kopf des Hörers zu sprengen. Episch gewaltig kommt F Sharp A Sharp Infinity mit seinen gerade mal drei Stücken in Überlänge daher, düster, prophetisch, apokalyptisch… und entwickelt dabei eine Sogwirkung, die selbst in diesem Genre ihresgleichen sucht. Ein opulentes Meisterwerk düsterer Klangkunst, ein Meilenstein des Genres und DER große Wegbereiter für die Postrock-Meisterwerke der kommenden Jahrzehnte.

Bands/Künstler_Innen: Bark Psychosis, Cul de Sac, Godspeed You! Black Emperor, John Fahey, Labradford, Mogwai, Sigur Rós, Slint, Stars of the Lid, Talk Talk, The Notwist, Tortoise, | Genres: Art Rock, Post-Rock, Rock, | Jahrzehnt: 1990er,


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