Traumhochzeit – Eine Rezension zu Broken Social Scene – s/t (2005)

Wir schreiben das Jahr 2005… So unterschiedlich die beiden Genres auch sein mögen, eines haben sie gemeinsam: Sowohl Postrock als auch Indiepop stecken in einer selbst eingebrockten Krise. Während der Indie-Pop sich in kassenträchtige UK-Retro-garage-Rock-Hypes auf der einen Seite und seichte Pop-Boote auf der anderen Seite splittet und dabei jede Innovation vermissen lässt, dümpelt der Postrock im Fahrwasser von unzähligen „Godspeed! You Black Emperor“-Klonen und hilflosen Ambient-Verbrechern, die dem ehemals subversiven Genre einen starken Anstrich von biedermeierschem Konservatismus geben. Da liegt es natürlich nahe, beiden Genres einen Nachruf zu schreiben, sich epitaphischem Wehleiden hinzugeben und eine allgemeine düster, pessimistische Kunstapokalypse heraufzubeschwören. Ausgerechnet Broken Social Scene, das auf mittlerweile zehn Mitglieder angewachsene Künstlerkollektiv, gestartet als Postrock-Projekt mit Tortoise-Anleihen (Feel good lost) und einen Abstecher in trockenen Rock hinter sich habend, geht den genau entgegen gesetzten Weg. Auf dem Opus Magnum der Band, dem berüchtigten Selftitled-Album feierten sie 2005 in elegischen, bunt zusammen gewürfelten, wild ekstatischen Tönen die Wiederauferstehung zweier Genres aus ihrem Dornröschenschlaf und deren innigste Vereinigung.

„We hate your hate“ heißt es in der Innenseite des Booklets und genau dieser Spruch gibt auch die Marschrichtung vor: Bunt und süß wie Kirmeszuckerwatte, elegisch und festlich als wollte man tatsächlich die Hochzeit des (Indie)-Pop und Postrock zelebrieren, laut und ungestüm, voller zerfetzter Klangfragmente, fragil und hektisch wie ein vertontes Tourette-Syndrom und nicht zuletzt überladen, überladen, überladen! Anstatt sich dem im Indie-Pop der 90er etablierten minimalistischen Zeitgeist anzupassen schlägt die Big Band ganz andere Töne an. Jedes Instrument ist willkommen, egal ob Bläser, Tasten, Saiten oder Stimmen, egal ob rhythmisch oder melodisch… rein in den Song damit! Egal ob laut oder leise, egal ob bunt oder schwarzweiß, jede Stimmung ist willkommen. Und am besten das alles noch zeitgleich. Zahhlose Spuren liegen übereinander und fließen ineinander über. Wo immer man sich auch befindet, es klackert und blubbert, polyphone Gesangslinien von sanften Männerstimmen werden zielgerade zerschnitten von dem wunderschönen Organ der Sängerin Feist, die abwechselnd singt, schreit, spricht und sogar Rap-Anleihen anklingen lässt. Gitarrengeschrammel wird gnadenlos zersägt von imposanten Bläsern, elektronische Beats zerschnitten von merkwürdigen Soundcollagen, Instrumentalparts lösen sich auf im schieren Klackern unzähliger Instrumente und plötzlich webt ein Hauch von Soul oder Funk oder Disco oder Rock oder Hip Hop oder was auch immer in das Geschehen.

Ruhe findet der Hörer bei dieser atemberaubenden Reise nur selten. Selbst in balladesken Songs wie dem sommerlich frischen „Major Label Debut“ hält sich ein Rauschen, eine subtile Angespanntheit aufrecht und löst sich immer genau dann auf, wenn die nächste Spur dazu gemischt wird, die nur auf ihren Einsatz zu warten schien. Es blubbert es klackert es wabert es atmet, es lebt! „Ibi dreams of pavement“ zum Beispiel: Eine laut krachende Hommage an all die Indie-Vorreiter der 90er. Nach einigen Glockenschlägen bricht ein ungeheuer lautes und energisches Noisegewitter los. Hinter jeden Ecke wartet die nächste Explosion, der nächste Schrei, das nächste manische Zucken. Und als wäre dies nicht genug gibt sich die Big Band auch noch hemmungslos einem rauschhaften Psychedelic-Trip irgendwo zwischen entspannendem Gras und hysterisch machendem LSD hin. Durchgeschüttelt wird der Zuhörer auch beim ungemein rhythmischen „Fire eyed boy“, das mit augenzwinkernden poppigen Ohrwurmmelodien aufwartet und trotz überheblicher Süße nie in den Kitsch abdriftet…einfach weil zu viel passiert, als das man sich einem einzigen Gefühl hingeben könnte. In „Windsurfing Nation“ battlen sich klackernd hysterische Beats, smoothe Raps und ausufernder Gesang, der ebenso von den Beach Boys stammen könnte. Natürlich ist das alles hoffnungslos überladen, übertrieben und überambitioniert. Aber wo manche Progressive-Band der neueren Schule sich in schwülstigem Pathos und Manierismus verlieren würde, hat dieser Cocktail tatsächlich etwas entspannendes, Gemütliches, ja sogar relaxt Zurückgelehntes.

Von einer sedativen Wirkung ist diese Überdosis an großartigen Momenten natürlich trotzdem meilenweit entfernt. Anstrengend mag sie beim ersten Hören sogar wirken. Unzählige Facetten drohen in den Soundungetümen unterzugehen, aber Broken Social Scene punkten mit etwas, was andere Alben dieser Komplexität nicht aufweisen können: Hits! Gottverdammte Hits! Ohrwurmmelodien noch und nöcher. „Give me more that Beat“ fordert Feist im Song „Swimmers“, um kurz darauf eine wunderbar belebende Gitarrenballade aus dem Ärmel zu zaubern. „Shoreline“ ist beinahe der perfekte Popsong während „Hotel“ Prince vor Neid erblassen lassen würde. Säuseln, zupfen, blubbern, blabbern und sich niemals mit dem Geringsten zufrieden geben. Mehr und mehr und mehr und mehr. Bläser? Soul? Beats? Her damit, rein damit und kräftig durchgeschüttelt!

So gelingt Broken Social Scene nicht nur das beste Album 2005 sondern gleich auch noch eines der innovativsten Alben des letzten Jahrzehnts. Ein Album das vieles kann und alles will und dabei trotzdem keine Kompromisse eingeht: Ohrwurmtaugliche Hits und perfekte Popsongs, vertrackte Kompositionen und progressive Soundstrukturen. Und da man dieses Album tatsächlich nur mit Superlativen beschreiben kann (ist es doch ein einziger Superlativ), muss man einfach erwähnen, dass hier wohl eine der offensivsten Antipoden zum Pop-Geschehen stattfindet. Nicht der kleinste gemeinsame Nenner, sondern der Größte. Spätestens wenn das Album mit „It’s all gonna Break“ in himmlischen Fanfaren und aberwitzigem Pop-Pathos abschließt, weiß der geneigte Hörer, dass hier ein wahres Ereignis zelebriert wird: Die Hochzeit von Pop, Indie, Postrock und unzähligen anderen Genres. Ein wunderbares Fest der Sinne, ein Bündnis für die Ewigkeit.

Bands/Künstler_Innen: Broken Social Scene, | Genres: Art Pop, Indie, Pop, Rock, | Jahrzehnt: 2000er,


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