Hörenswertes Herbst 2011: Yann Tiersen, Priestbird, Collapse under the Empire, The Book of Knots

Warum zu Hölle sind wir eigentlich im Moment so trantütig, was Hörenswertes-Artikel betrifft? Ich habe für diese vier Reviews auch gefühlte drei Jahre gebraucht. Dabei benötigt der Mensch doch gerade in der kalten Jahreszeit – die jetzt voller Wucht zuschlägt – warme, fesselnde und epische Klänge, die ihm sagen, dass trotz sibirischer Temperaturen alles irgendwie gut wird. Hier sind sie nun also, nicht mehr ganz taufrisch, aber perfekt in den Herbst passend und diesen von seiner epischen, romantisch verdrogten und düsteren Seite repräsentierend. Während Priestbird mit wohl temperiertem Hippie-Art-Folk noch für die richtige Untermalung der Kaltwetter-Romantik sorgen, entführen uns Yann Tiersen und Collapse under the Empire bereits aus der urbanen Herbst-Tristesse, ziehen uns hinauf in himmlische Gefilde und ein Stückchen weiter, bis wir schließlich komplett im Weltraum angekommen sind. Dort ist es freilich wieder kalt, sau kalt, und wir werden von düsteren Avantgarde-Klängen von The Book of Knots durch die kosmische Finsternis gejagt. Aber im Grunde genommen passt das ja auch ganz gut zur derzeitigen Atmosphäre zwischen herbstlicher Tristesse, gelegentlichen Sonnen-Ausbrüchen und bangem Warten auf den Winter.

Priestbird – Beachcombers

(Download, Oktober 2011)

Priestbird, Priestbird, Priestbird…? Zu wirklicher Bekanntheit hat es die New Yorker Band leider nie geschafft, und so ist es auch wenig verwunderlich, dass ihr neuster Output Beachcombers nur als kostenloser, spendenfinanzierter Downloadcontent angeboten wird. Auch mit der Vorläuferband des Projekts, Tarantula A.D. dürften nur die wenigsten bekannt sein. Diese hatten mit Book of Sand (2006) ein herausragendes Debüt zwischen Progressive, Avantgarde und Postrock aufgenommen, um sich nur kurz darauf aufzulösen und unter dem Namen Priestbird weiterzumachen. Deren Debüt In your Time (2007) wiederum hatte nur wenig mit den vorherigen Soundscapes gemein: Stattdessen gab es satten, deftigen Art- und Alternative Rock, immer an der Schwelle zum Metal und Eso-Pop. Soweit so gut: Stillstand scheint den dreien jedenfalls keine Option zu sein und so preschen sie auf Beachcombers mit atmosphärischem, herrlich nostalgischen Progressive Folk-Klängen vor, um vielleicht – hoffentlich – endlich einen größeren Impact zu verursachen.

Verdient hätten sie es allemal. Denn so dreist sich Beachcombers auch bei zahllosen folkloristischen und progressiven Genres des 20. Jahrhunderts bedient, so sehr hat es doch seinen ganz eigenen, eklektischen, höchterquickenden Kern. Priestbird wandern durch surreale Hippielandschaften, erproben sich in Pet Sounds, greifen mehrmals tief in die LSD-Trickkiste um schließlich mit Banjos bewaffnet, americana as it gets, dem Sgt. Pepper Lonely Hearts Club den Hals umzudrehen. Das ist retro im besten Sinne des Wortes, klingt gerade so, als hätte sich eine Horde Kiffer über die Musiksammlung der Eltern – mitunter auch der Großeltern oder gar Urgroßeltern – hergemacht und damit einen ordentlichen Reibach veranstaltet. So sagen Priestbird dem Progressive und Avantgarde gar nicht vollkommen lebewohl, sondern verstecken ihn einfach gut unter zentnerschweren Schichten aus Folk-Pop, düsterem Rock N Roll und herrlich antiquiert wirkendem 50’s Ambient. Kurzfristig dann auch einfach mal ein bisschen zu sehr Fahrstuhlmusik, dann allerdings urplötzlich ungemein lässig und cool und im nächsten Moment auch schon verträumt die Hippies und Blumenkinder vorbeischickend…

Beachcombers ist vieles, und sympathischerweise praktisch nie zeitgemäß. Stattdessen gibt es einen wehmütigen halbverklärten Ausflug in die U-Musik Amerikas des 20. Jahrhunderts. Eingängig, charmant, liebreizend, manchmal aber auch bissig und subversiv. Definitiv aber immer die guten alten Zeiten zum Leben erweckend: egal ob hedonistisch im Drogenrausch davonschwebend, psychedelisch wabernd, rebellisch rockend oder gut bürgerlich, country’esk vor sich hin trabend. Dank seiner bunten Mischung ist Beachcombers ein angenehm entspannter, unprätentiöser Ausflug in Tradition und Aufbruch, Rebellion und zu sich Finden; nicht nur äußerst charmant, sondern in seiner konsequenten Affirmativität auch einzigartig, gerade in den Zeiten des avantgardistischen Zynismus und der postideologischen Vorwärts-Ideologie. Ein kleines, unaufgeregtes und zurückhaltendes Meisterwerk, dem weitaus mehr Aufmerksamkeit gebührt, als Priestbird derzeit erhalten.

Yann Tiersen – Skyline

(Mute, 14.10.2011)

Ganz sachte und subtil hat Yann Tiersen den Wandel vom Avantgarde Folk und der cineastischen E-Musik zum Postrock und Ambient-Rock vollzogen. Dass dabei so manche Experimentierfreude und zeitgenössische Kompositions-Spiellust auf der Strecke blieb, war verschmerzbar, da er zwischen Klassik, Pop und dichten Soundscapes immer noch hervorragende Werke produzierte. Auf Dust Lane (2010) schien dieser Weg erst einmal konsequent zu Ende gedacht: Bombastische Melodien, dunkle Spannungsbögen und eine tiefe, lodernde Grundstimmung generierten einen gekonnten Hybriden aus E- und U-Musik. Skyline nimmt diese Ankunft in der vernebelten, mysteriösen Soundlandschaft nun auf… und führt sie wieder ans Licht.

Dass der zum Himmel weisende Titel dabei nicht nur für das Artwork programmatisch ist sondern ebenso für den dahinterliegenden Sound, daran besteht kein Zweifel, wenn die ersten Töne von Skyline durch die Boxen klingen. Dieses ist nicht nur ein Zwilling zum dunklen, geheimnisumwitterten Dust Lane, sondern darüber hinaus so etwas wie dessen leuchtender, leichter und schwereloser Widerpart. Die Elemente und Momente sind die gleichen: Multiinstrumentierungen, atmosphärische Instrumentals, Einflüsse von Folk, neuer Musik, Avantgarde und Experimental… Dabei verzichtet Tiersen jedoch auf die sakrale Monumentalität des Vorläufers und schenkt Skyline eine traumtänzelnde und vor allem luftige Gesamtatmosphäre. Beinahe intim wirkt der gelöste Flug in die Wolken, der Flirt mit dem Himmel, wenn in New Wave und Electro-Einflüssen auch mal Sigur Ros und Tortoise vorbeischauen dürfen.

Statt schwerer, philosophischer Musikmonologe abzuhalten, lässt Tiersen die einzelnen Versatzstücke dieses Mal flimmern, flackern, die einzelnen Noten und Melodien im fragmentarischen Kaleidoskop seiner Himmelseindrücke tanzen. Das ist zwar ganz dicht dran an Dust Lane, aber immer auch ein Stückchen daran vorbei, flüchtig, fliehend, den Sound vom Ballast erlösend… und den Hörer sanft aus dem Staub in den Himmel entführend. Dürfte jedem gefallen, der den Vorgänger mochte und führt dessen Konzept sachte aber bestimmt in neue verzückende Sphären.

The Book of Knots – Garden of Fainting Stars

(Soulfood, 09.09.2011)

Während Yann Tiersen durch den Flirt mit populären Postrock- und Ambientklängen ein wenig mit der Avantgarde und Experimentalkunst abgeschlossen hat, stehen The Book of Knots voll im Zenit experimenteller, stranger und alles andere als massenkompatibler Klänge. Das ist auch ihr gutes Recht, haben die vier Kanadier doch bereits zuvor sowohl mit experimentellen Klangkünstlern als auch avantgardistischen Pop-Gardisten zusammengearbeitet: Sleepytime Gorilla Museum, Frank Black, Skeleton Key, Elvis Costello… das macht einiges her auf der Vita, und die auf Garden of Fainting Stars mitarbeitenden Gäste wie Blixa Bargeld und Mike Patton lassen ebenfalls Rückschlüsse auf ungewöhnliche Soundscapes zu.

Das Album klingt dann auch tatsächlich erst einmal nach einem gewaltigen, dissoziativen und zerfetzten Art-Rock-Brocken. Elektronische Klangfragmente mischen sich mit geerdeter Rockmusik, mit mal außerirdisch fremden, mal entspannten Blues-Vocals und generieren einen wilden Ritt durch avantgardistische Klangräume. Leicht zu fassen sind die New Yorker nie, kümmern sich wenig um Erwartungshaltung – egal ob aus der Pop- oder Experimental-Ecke – und kreieren damit einen monströsen Bastard aus trippigen Störgeräuschen, atmosphärischen Klangteppichen und gelegentlichen Blues-Ausflügen. Gerade so, als würden Björk und Tom Waits bei einer geselligen LSD-Einnahme ihre gemeinsame Leidenschaft für die Kosmologie entdecken, so als würden Außerirdische irgendwo in New Orleans landen und die Bars dieser Stadt unsicher machen.

Garden of Fainting Stars ist anders und klingt oft genug dennoch vertraut. Die Versatzstücke aus Free Jazz, Americana, Experimental, Metal und zahllosen anderen Genres wirken bekannt, ihre Gesamtkomposition dagegen entzieht sich jeder Kategorisierung. Damit bieten sich The Book of Knots auch als legitime Residents-Ahnen, als Klangkünstler zwischen Pop und Avantgarde der Postrock-Ära an. Mut zur Andersartigkeit verpackt in zynischen und eklektischen Song-Ungetümen, die vom Hörer einiges verlangen, Schönheit bewusst auseinandernehmen und ein antimusikalisches, zutiefst musikaffines Klangerlebnis generieren. Das ist jetzt vom Ansatz her zwar nicht bedingungslos originell, in der Ausführung aber derart genuin und eigen, dass der Freund neuer musikalischer Eroberungen beim Hören oft genug in Verzückung geraten wird. Und ohnehin, wann durfte man zum letzten Mal derart bedingungslosen und zugleich charmanten Art-Rock hören? Kunstkunstkunst für die Hipster-Szene. Gefällt!

Collapse under the Empire – Shoulders & Giants

(Cargo, 21.10.2011)

Postrock made in Germany, in atmosphärisch und natürlich auch im Cinemascope-Format. Auch wenn die Zutaten des Collapse under the Empire Kosmos nur geringfügig originell sind, gelingt es den Hanseaten doch, damit neue postmusikalische Landschaften zu eröffnen. Shoulder & Giants ist so etwas wie der philosophische, epische Science Fiction Film unter den Kopfkino-Kompositionen unserer Zeit. Große, dichte und ambivalente Instrumental-Landschaften werden durch elektronische Klänge und synthetische Einsprengsel aufgebrochen. Der Pathos wartet, schaut vorsichtig um die Ecke und bricht kurzfristig mit aller Gewalt herein, nur um dann wiederum trip hoppigen und neoprogressiven Intermezzi Platz zu machen.

Shoulder & Giants ist episch, ohne Frage, bedient sich bewusst bei den Powerchords, harmonischen Strukturen und dem postapokalyptischen Pathos klassischer Postrockwerke, badet auch mal tief im metaphysischen Soundgemenge und bietet dabei doch genug Brüche und Konturzersetzungen, um als eigenständige Komposition zu bestehen. Natürlich denkt man dann auch oft genug: Habe ich schon gehört. Ist mir bekannt. Explosions in the Sky die Siebte? und natürlich werden Collapse mit diesem eher traditionellen Genre-Sound – trotz gelegentlicher Dekonstruktion – nicht das Überraschungsmoment erreichen, mit dem experimentierfreudigere Postrock-Veteranen wie 65daysofstatic oder A silver Mt. Zion dieses Jahr beweisen durften, dass Postrock alles andere als ausgedient hat. Dennoch wissen die Schulter und Giganten zu fesseln, in spacige, tiefe Räume zu entführen und große musikalische Horizonte zu generieren. Es muss eben nicht immer gleich die nächste Genre-Revolution sein. Mitunter genügt auch wunderbar komponierter, traditioneller aber oft genug raffiniert aufgebrochener und vor allem epischer Instrumental-Postrock der klassischen atmosphärischen Art, um Herz und Seele zu erwärmen und den Geist nicht außen vor zu lassen. Schönes Genre-Werk, das gerade wegen seiner nur subtilen Experiementierfreude ausgehungerte Postrock-Jünger lange Zeit befriedigen und fesseln dürfte.

Bands/Künstler_Innen: Collapse under the Empire, Priestbird, Tarantula A.D, The Book of Knots, Yann Tiersen, | Genres: Art Rock, Avantgarde / Experimental, Klassik / E-Musik, Post-Rock, Progressive Rock, Rock, | Jahrzehnt: 2010er,


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