Zwischentöne aus dem Indie Pop Nimmerland – Rezension zu The suburbs von Arcade Fire

Wenn in den letzten Monaten nach dem heißersehntesten Indie Pop Album 2010 gefragt wurde, fiel meistens wie aus der Pistole geschossen ein Name: The Suburbs, der dritte Langspielplattenstreich des kanadischen Pop-Kollektivs „Arcade Fire“. Immerhin hatte die Band 2004 mit Funeral eines der beliebtesten Indie Pop Alben des vergangenen Jahrzehnts aufgenommen und auch mit dessen Nachfolger Neon Bible für Begeisterungsstürme bei Fans und Kritikern gesorgt. Ein Hauch von Hoffnung wehte seit der Ankündigung über dem nun erscheinenden Album. Könnten Aracde Fire (vielleicht noch zusammen mit Broken Social Scene) im Alleingang die angerostete Indie-Ehre retten? Wären sie der Hoffnungsträger für die Zukunft der Musik der Hornbrillen- und Sportjackenträger? Selten zuvor wurde ein Album so heiß umsehnt, so mystifziert und diskutiert, bevor überhaupt seine ersten richtigen Töne zu hören waren. Nun liegt es vor uns, in seiner ganzen Pracht…

Was als erstes an „The Suburbs“ auffällt: Arcade Fire haben eine Menge Ballast abgelegt. Das Orchestrale, Majestätische der Vorgänger wurde zurückgeschraubt, ebenso die neckige Lust an der Multiinstrumentierung. Suchte die Band damals nach den himmlischsten, dichtesten Artrock-Himmeln, so wirkt sie nun befreit, beschwingt, einfach leichter. Natürlich gibt es hier nach wie vor folkige Zwischentöne zu hören, natürlich wird nach wie vor hin und wieder im Choral geträllert, und multiinstrumentalisierte, festliche Passagen gehören auch hier wieder zum Repertoire. Trotzdem ist der Sound von Arcade Fire um einiges schlanker geworden, kämpft nicht mehr mit jedem einzelnen Ton, sondern lässt den Zwischentönen und auch den ruhigen Lauten mehr Platz zum Atmen.

Das zweite was auffällt: Durch diese neue Leichtigkeit hat die Arcade Fire’sche Musik nichts an Verspieltheit eingebüßt… eher im Gegenteil. Was auf Funeral Schicht für Schicht aufgebaut wurde, wird hier in klassischen folkigen Pop-Hymnen verpackt, die für Arcade Fire Verhältnisse fast schon minimalistisch wirken und dennoch unerhört charmant poppig, antipoppig zu ihren Hörern schleichen. Aber keine Sorge: Auch hier gibt es genug zu entdecken: Handclaps, Ehrensache, flockig und hymnisch mit einem düsteren Subtext flackern „Ready to start“ und das Titelstück im Sonnenlicht, während das relaxte „Modern Man“ tief in der 80er Jahre Trickkiste wühlt. Geblieben ist das Manische, das ganze Leben umarmende, das schon immer ein wichtiger Teil des kanadischen Songkosmos war. Bei „Empty Room“ peitschen hysterische, von Hageln durchzuckte Gitarren durch einen kunterbunten Regenbogen, begleitet von aufgekratzten nach Orientierung suchenden Vocals. Bei „City with No Children“ legt Steve Wilson wohlwollend seinen Arm über die Schulter von melancholischen Beach Boys und verloren dazwischen taumelnden Smiths.

Vor allem die Fassade der einzelnen Songs wurde ordentlich gestrichen: Die quietschbunten, naiven – böse könnte man auch sagen „die verzweifelt infantilen“ – Farben sind gewischen; alles ist nochmal ein gutes Stück edler und erlesener geworden. Dahinter werkelt aber nach wie vor der majestätisch verspielte, komplexe und trotzdem popreife Sound, der zu erwarten war. Arcade Fire machen sich damit mit Sicherheit nicht auf, die Popwelt im Sturm zu erobern, wie bei den Vorgängeralben noch spekuliert wurde. Stattdessen spielen sie weiter wie Kinder mit ihren unzähligen Klangfarben, scheinbar immer noch auf der Suche, nach der passenden Richtung, nach der stimmigen Musik… vielleicht auch nach dem perfekten Popsong. In Half Light II (No celebration) scheinen sie diesen dann auch tatsächlich kurz greifen zu können, bevor die popsakralen Klänge in zahllosen verfremdenden Schichten wieder weit weg geblasen werden von allem, was im Radio zu verorten wäre. Bei „month of may“ schließlich wird sogar eingezählt, bevor punkig schnoddrige Gitarren den Pophimmel endgültig zum Clashen bringen.

Ja, The suburbs steckt mehr denn je voller Zitate und Verweise. Die halbe Popwelt wird hier zitiert, geehrt und verarbeitet. Von The Smiths über The Cure über Bruce Springsteen über Abba und The Clash bis hin zu Depeche Mode, New Order und wie immer Bowie, Bowie, Bowie. Viel 70er und 80er steckt im Material, so wie es schon beim letzten Auftritt der anderen kanadischen Indie-Größen der Fall war. Nach Songcollagen klingt trotzdem nichts auf The suburbs. Dafür sind Arcade Fire trotz aller Spielfreude zu homogen, zu genuin, zu sehr auf ihre eigene Suche konzentriert, möge diese noch so viele Bögen schlagen. Ohnehin, alles was man zu erkennen galubt, scheint weit weg zu sein, durch die Klangkonstruktionen von Arcade Fire getrieben, irgendwo im Pop Nimmerland angekommen. Ganz egal ob das elektronische Rauschen der 80er Discoqueen „Sprawl II“ das hypnotische Pianogeklimper des stolpernden Art Pop Zöglings „We used to wait“ oder die Songwritergalanzen des hinterherfallenden „Rococo“, das sich langsam zu einer barocken Kirchenhymne hochschwingt, um im Krach zu verebben. Sei es drum. „The suburbs“ macht Spaß… Mehr als das. Es ist eine Entdeckungsreise durch Verweise, durch Labyrinthe, durch märchenhafte Wälder, hin zu irgendwas Poppigem, irgendwas Pompösen, irgendwas Verträumten, irgendwas einfach Schönen. Sollen sich die anderen streiten, ob nun die naive Spielfreude Funerals oder die düstere Erhabenheit der Neon Bible bessere Alben generiert hat. Auch mit „The suburbs“ bieten Arcade Fire wunderbaren, originellen, andersartigen Pop. Groß, stilverliebt, vielleicht auch ein bisschen prätentiös, ein bisschen kitschig, ein bisschen überladen, aber wieder einmal auf dem Sprung mehr zu sein, mehr zu werden und mehr zu bleiben.

Bands/Künstler_Innen: Arcade Fire, | Genres: Art Pop, Indie, Pop, Rock, | Jahrzehnt: 2010er,


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