Kid C? – Rezension zu Radioheads „The King of Limbs“

Als pünktlich zur Jahrtausendwende der neuste Radiohead-Output Kid A angekündigt wurde, geschah dies jenseits jeglicher Normen der Musikindustrie: Keine Singleauskopplungen, keine Musikvideos, keine Interviews, stattdessen nur ein Haufen Blips die eine irritierte, ratlose aber umso neugierige Hörerschaft zurückließen. Nachdem Radiohead 2003 ihre Arbeit mit EMI beendet hatten, veröffentlichten sie erst vier Jahre später ihr neustes Album „In Rainbows“: In Eigenregie, vorerst nur als digitalen Download, dem Hörer überlassend, wieviel er für das Material zahlen wollte….Und jetzt das. Innerhalb einer Woche wird ein neues Album angekündigt, ein Musikvideo veröffentlicht und das Album sogar einen Tag vor regulärem Verkauf online gestellt.

Während die Musikindustrie fieberhaft gegen Raubkopierer kämpft, während abertausende Bands über die fehlende Lukrativität von Plattenverkäufen lamentieren, scheinen Radiohead in ihrem ganz eigenen Vermarktungskosmos angekommen zu sein. Ein kleiner Wink genügt, um die Musiklandschaft in helle Aufregung zu versetzen. Scheiß auf die Label, scheiß auf das Marketing, scheiß auf die Industrie! Ob das nun eine konsequente, lobenswerte Antihaltung oder übersteigerte Arroganz einer erfolgsverwöhnten Gruppe ist? Who cares! Was zählt ist wie immer die Musik, und auch diese bewegt sich wieder, nach dem sehr popfreundlich eingestellten „In Rainbows“ auf abstraktem, alles andere als leicht konsumierbarem Niveau.

The King of Limbs ist das sperrigste Radiohead-Werk seit dem Kid A/Amnesiac Zwillingspaar. Das wird schon beim ersten Hören des Albums deutlich. Klar, auch auf den letzten Veröffentlichungen gab es sie: Die zentnerschweren, experimentellen und avantgardistischen Klangalpträume. Aber diese hatten eben auch die Hits im Gepäck, und die muss man auf „The King of Limbs“ erstmal mit der Lupe suchen. Die Vorabsingle Lotus Flower, in deren Video ein manischer Thom Yorke in einer kargen Schwarz-Weiß-Kulisse einen eigenartigen Veitstanz aufführt, könnte noch am ehesten als eingängiger Elektropop durchgehen… Am ehesten. Denn auch hier flimmern die hektischen Beats in ihrer ganz eigenen, abstrusen Kosmologie durch den Soundraum. Während die Oberfläche rhythmisch fast tanzbar bleibt, schwirren verlorene Dub-Steps und düstere Postrock-Algorithmen über den hintergründigen Electropop, als wollten sie diesen von dem Publikum bewusst entfremden. Und das wars dann auch mit der Tanzbarkeit. Da kann sich Thom im zugehörigen Clip noch so verrenken. Trotz Dub Step, trotz Electrobeats, trotz Synthiewellen ist The King of Limbs weit entfernt von allen Clubs dieser Welt.

Das liegt in erster Linie an der vordergründigen Kargheit, die insbesondere in der ersten Hälfte des Albums zum Tragen kommt. Reduce to the Max. Während die Vorgänger trotz gewisser Sperrigkeit immer noch eine symphonische, dichte, Progressive-Note besaßen, scheint „The King of Limbs“ auf das wesentliche entblättert: Die Beats stolpern durch sämtliche Songs, ohne je vollends nach vorne marschieren zu wollen, Thom Yorkes defätistische Stimme verschwindet hinter dem wabernden Soundteppich, während das präzise rhythmische Korsett von fremdartigen Ambient-Sounds übermalen wird. So wie beim Eröffnungsstück „Bloom“, das trotz sich aller Kargheit in einen dichten fesselnden Rausch spielt. „Morning MrMagpie“ dagegen hangelt sich an hyperaktivem elektronischen Wimmern entlang, das trotz seiner fast schon penetranten Hektik derart dicht gewoben ist, dass es sich protestlos vom restlichen Sound in die zweite Reihe verdrängen lässt. Während „Little by little“ in seinem pathologischen Ästhetizismus so etwas wie ein „In Limbo 2.0“ darstellt, entfernen sich Radiohead spätestens mit der abstrakten, dissonanten Hymne Feral von jeder irdischen Musikalität. Irgendwo zwischen den Klangexperimenten der Kid A Sessions, im heftigen Flirt mit Post-Electronica der Marke Björk sucht das Stück weder Melodie noch Sinn und findet in seiner eigenartigen Verschachtelung doch so etwas wie Schönheit, oder etwas darüber hinaus… jedenfalls wieder einmal nichts von dem, was erwartet werden durfte.

Da präsentiert sich die zweite Hälfte des 37Minüters fast schon anschmiegsam im Vergleich zu dem sperrigen Eröffnungslodern: Die bereits erwähnte Vorabsingle „Lotus Flower“, das melancholische Codex, dessen getragenes Pianospiel in Kombination mit Thom Yorkes fantastischem, resignierenden Gesang an Videotape von „In Rainbows“ erinnert, das wunderschöne emotionale Tauchbecken „Give up the Ghost“ und der treibende Electropopper Separator scheinen doch so etwas wie Versöhnung mit den letzten verträumten Regenbögen zu suchen. Dazwischen stören Radiohead aber wieder einmal gekonnt ihre eigene Harmonie, gerade so, als ob diese ihr größter Feind wäre. Sicherheiten gehen in verschachtelten Rhythmen unter, schwelgende Ambientsounds werden von düsterem, apokalyptischen Greinen durchfahren, scheinbar endlose Fade Outs provozieren Ohr und Herz der Zuhörer und hinter jedem fragilen, zerbrechlichen, balladesken Moment schlummert etwas Böses, Prophetisches und Verstörendes. Radiohead sind nicht nur marketingstechnisch sondern auch musikalisch wieder einmal auf der Suche nach dem ungewöhnlichsten, unangepasstesten Weg.

Dass sie diesen dabei dieses Mal nicht immer vollends finden,  mag ihre eigene Schuld sein. Immerhin ist Kid A mittlerweile über zehn Jahre alt und hat zahllose andere Künstler inspiriert, die die elektronische Musikwelt seitdem um so manches Meisterwerk bereichert haben. Radiohead bewegen sich mit „The King of Limbs“ genau in den Fahrwassern jener Epigonen. Mit einem nostalgischen Blick auf den Jahrtausendswechsel, mit dem Versuch den elektronischen Postrock, um weitere Facetten zu erweitern, aber unüberhörbar mit dem Monolithen Kid A im Nacken. So ganz erreichen sie dessen überraschendes Moment, dessen hochwertige Experimentierkunst dann auch nicht und schmiegen sich stattdessen ganz dicht an den – ebenso herausragenden – Nachfolger Amnesiac. Also doch ein Kid C… sowohl musikalisch als auch qualitativ. Dass selbst die dritte Ausgeburt dieses genialistischen Schaffensprozesses herausragende Antihymnen und bewegenden Experimentalpop hervorbringt, unterstreicht nur die Ausnahmestellung der Band. Was soll man auch anderes sagen? Es ist dicht, es reißt mit, es erschließt seine Schönheit peux a peux, fordert, begeistert, offenbart neue Facetten mit jedem weiteren Hördurchgang. It’s just another Radiohead-Meisterwerk: Ein mitreißender, verschachtelter, eskapistischer Electro-Klangmonolith und wieder einmal Balsam für die Ohren der in letzter Zeit geschundenen Art-Pop Hörer.

Bands/Künstler_Innen: Radiohead, | Genres: Art Pop, Art Rock, | Jahrzehnt: 2010er,


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