Die besten Punkrock-Alben der 90er Jahre IV

Einen hätte ich noch… Die letzte internationale 90er Punk-Retrospektive (bevor ich mich an den Deutschpunk der Dekade wage), darf gerne auch – zumindest partiell – mit „Punk, der nicht immer nach Punk klingt“ umschrieben werden. Damit ist aber in diesem Fall nicht der Pop-beeinflusste Melodycore der Zeit gemeint, sondern viel mehr das andere Extrem: Punk, der sich vom Experimentellen, Avantgardistischen, Metallischen und Außergewöhnlichen beeinflussen lässt: So wie Nomeansno, die heftig mit Neo Progressive Rock flirten, oder The Exploited, die sich auch im Thrash Metal sichtlich wohl fühlen. Und natürlich nicht zu vergessen Refused, die mit ihrem Post-Punk-Core die Jahrtausendwende vorwegnehmen. Dazwischen tummeln sich noch die beiden Riot Grrrl Bands Sleater Kinney und L7, die zu dem Genre ihren ganz eigenen Stil beitragen. Ich bleibe dabei: Auch jenseits der Radiokompatibilität waren die 90er ein Punk-Jahrzehnt, das weitaus mehr zu bieten hat, als man auf den ersten „Punk is dead!“-Blick vermuten könnte.

NoMeansNo – Why Do They Call Me Mr. Happy?

(Alternative Tentacles 1993)

Wohl kaum zwei musikalische Genres lassen sich so schwer zusammendenken wie der Punk und der Progressive Rock. Schrammelige Nichtskönner auf der einen Seite, prätentiöse, selbstverliebte Snobs auf der anderen, zumindest wenn man den jeweiligen Antagonisten fragt. NoMeansNo gelingt es auf ihrem 93er Mammutwerk die vermeintliche Dichotomie aufzuheben: Songs, die nicht nur die 3- sondern auch gleich die 5-Minuten-Grenze überschreiten, epische Hymnen, vertrackte Kompositionen und dennoch überall dieser Punk Spirit, den man im Neo Progressive der 90er Jahre sonst vergeblich sucht. Und so klingt Mr. Happy dann auch tatsächlich wie eine höchst vergnügliche Mischung aus Tool und Sex Pistols, aus Faith No More und Ramones, aus vertracktem Prog der frühen 90er Schule und derbem dreckigen Punk, ohne seine Genuinität einzubüßen. Ein großartiger Genre-Crossover, der sowohl aus den Punk- als auch Rockalben der Zeit signifikant heraussticht. Auch hörenswert in der Dekade ist der In the Fishtank Auftritt von Nomeansno, die immerhin als erste Band diese musikalische Reihe einleiten durften.

Sleater Kinney – Call the Doctor

(Chainsaw 1995)

Die dreckige, punkige und die düstere Seite des Riot Grrrl habe ich ja schon in der letzten 90er Punk Retrospektive angebetet. Hier kommt die Pathetische… und die ist mindestens so awesome wie die beiden anderen. Sleater Kinney ziehen auf ihrem zweiten Album ein gutes Stück der ursprünglichen, anarchischen Wut zurück und spielen mit Momenten des Pop, Post Punk und Grunge. Heraus kommt ein ganz und gar fantastisches Stück Punk Rock, der zwischen Aggression und Melancholie, zwischen Wut und Spiel oszilliert. Das besitzt dann immer noch genug Attitude um als astreiner Riot Grrrl durchzugehen, schämt sich aber nicht um seine Freude an genrefremden Exzessen und ebnet dem schwer zugänglichen Genre gar den Weg in die Radios und Herzen der Pophörer. Vielleicht das inkonsequenteste Album der Bewegung, und damit natürlich in gewissem Sinne weitaus mehr Punk als alle anderen.

L7 – Smell the magic

(Sub Pop 1990)

Inkonsequenz kann man L7 nun beim besten Willen nicht vorwerfen. Smell the Magic ist roher, ungehobelter Punk der schönst dreckigen Sorte. Da müssen gar nicht Anekdoten um ins Publikum geworfene Tampons („Eat my used tampon, fuckers!“) oder heruntergezogene Hosen im Live-TV aus dem Hut gezaubert werden… Diese Band meint es auch unabhängig vom Showeffekt verdammt ernst. Donny Sparks und ihre Mädels prügeln und rotzen sich innerhalb kürzester Zeit in das Herz eines jeden 90er Punk-Liebhabers. Angereichert wird das dreckig hedonistische Schaulaufen mit zerfetztem Grunge-Geschrammel und wüsten Metal-Interludien, bei denen dann auch mal ein Mike Patton mitjammen darf. Ein großartiger Fuck-off-Schrei gegen den gelangweilten Rock und angepassten Alternative der damaligen Zeit. Auch hier wieder ein perfektes Bindeglied zwischen Punk Wut und Seattler Grunge Wut (und ebenfalls ein Album, das bereits in den Grunge-Retrospektiven hier gewürdigt wurde), in diesem Fall besonders spannend, weil das Album, das alle Ingredienzen einer guten Grunge Platte in sich trägt, ein ganzes Stück vor dem Hype um Nirvana, Hole etc. veröffentlicht wurde.

The Ex – Starters Alternators

(Touch and Go 1998)

Wie viel Experimental verträgt der Punk? Ne ganze Menge, wie The Ex schon seit den 80ern unter Beweis stellen. Mit zwei Kollaborationen mit dem Avantgarde Cellisten Tom Cora und einem reinen Instrumental-Album klangen sie in den 90ern mitunter derart avantgardistisch, dass sie nur noch schwerlich dem Punk zuzuordnen waren (was freilich nichts an der Qualität dieser Outputs ändert). Gegen Ende des Jahrzehnts fanden sie jedoch wieder in ihre ganz eigenen unbalancierte Balance zurück und präsentierten mit Starters Alternators ein Album, das ganz und gar herausragend zwischen Anarcho Punk, Avantgarde, Post Punk und weirdem Experimental Stuff pendelt: Destruktive monotone Gitarrenläufe, jazzige Ausbrüche, Sound-Dekonstruktionen, die sich weit vom ursprünglichen Punk-Gedanken entfernen… und doch über allem diese anarchistische, politische, subversive Attitüde, die so viele vermeintlich punkigere Punkbands in den 90ern verloren haben.

The Exploited – Beat the Bastards

(Rough Justice 1996)

Neben dem Progressive scheint auch der Metal nicht unbedingt das punk-affinste Genre zu sein. Die dichten, martialischen Hymnen des Metals, seine mitunter epischen Gitarrensoli und seine dogmatische, maskuline Attitüde sind weit entfernt vom abgefuckten Songs Herunterrocken des klassischen Punk Rocks. Dass dennoch zusammen geht, was scheinbar nicht zusammen gehört, beweisen The Exploited in ihren dichten Thrash/Punk-Cocktails ein ums andere Mal. Da dürfen dann elegische Gitarrensoli den derben Street Punk durchkreuzen… und im Gegenzug shoutet Sänger Wattie Buchan seine derben, hingerotzten Lyrics locker über jede undurchdringbar scheinende Thrash-Mauer. Das Ergebnis ist ein wunderbarer Hybrid aus der einen Tradition und der anderen Tradition, out of date und zeitlos gleich im doppelten Sinne, und ein Fest für alle Freunde des klassischen 70’s und 80’s Sounds, egal ob in Kutte oder Iro.

Refused – The Shape of Punk to come: A Chimerical Bombination in 12 Bursts

(Burning Heart 1998)

…Und am Ende des Punk-Jahrzehnts steht die Zukunft. Gelangweilt von dem harten Popzug des Mainstream-Punks der mittleren 90er Jahre, schmeißen Refused ihren Hörern mit diesem Mammut einen verdammten Brocken von einem artifiziellen, destruktiven und vor allem lauten Experimental Punk Meisterwerk vor die Füße. Ohne Rücksicht auf Genre-Dogmatismen bedienen sie sich bei Post, Core, Jazz, Metal und verquicken all diese Zutaten erstaunlicherweise so, dass sie fast schon wie die Quintessenz des Punk Rock klingen, die irgendwann in der Dekade verloren gegangen war. The Shape of Punk to Come hat Herz… und Wut… verdammt viel Wut… und dabei dennoch einen ambivalenten Sound, der keine Grenzen kennt. Klar, dass da Purist meckern mag: Zu viel Metalcore, zu viel Art Rock, zu viel cross over und post irgendwas; aber genau das macht den Geniestreich von Refused so einzigartig, so unverwechselbar und gerade in seiner Ambiguität zu mehr Punk, als man auf den ersten Blick vermuten mag. Definitiv eines der wichtigsten Alben des Genres, definitiv eines der wichtigsten Alben der Epoche.

Blink-182 – Enema of the State

(MCA, 1999)

…Und am Ende des Punk-Jahrzehnts steht der Pop. Und der muss dann doch irgendwie noch hier drin landen, auch wenn er auf den ersten Blick nicht zu den ganzen progressiven und avantgardistischen Punk-Alben der Liste passen mag. Blink-182 sind quasi im Alleingang dafür verantwortlich den Melodycore und California Punk gegen Ende des Jahrzehnts (und vor allem zu Beginn des neuen Jahrtausends) in den Pop Punk verwandelt zu haben. Das Ergebnis sind unzählige Epigonen, deren Musik in den damals – American Pie sei Dank – ebenfalls unzähligen und populären Teenagerkomödien rauf und runter gespielt wurde. Ja, man kann oft über die Qualität der Pop-Punk-Alben zur Jahrtausendwende streiten, festzuhalten bleibt allerdings, dass Blink die Formel perfekt beherrschten und mit „Enema of the State“ ein Album schufen, das auf kongeniale Weise zwischen den beiden Polen Pop und Punk balanciert, inklusive Mega-Hit und Boygroupvideo, inklusive viel Infantilität und wenig politischem Ehrgeiz. Auch heute noch macht das dritte Album der Kalifornier verflucht viel Spaß, Puristen mögen jammern, Traditionalisten mögen fluchen, es darf gerne groß und breit darüber diskutiert werden, ob das noch Punk ist… Als Statement im Pop & Rock der damaligen Zeit ist es dennoch einmalig, voller Hits, voller Freude, voller Pop-Appeal mit anarchischer Attitüde.

Bands/Künstler_Innen: Blink-182, L7, Nomeansno, Refused, Sleater Kinney, The Ex, The Exploited, | Genres: Punkrock, Rock, | Jahrzehnt: 1990er,


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