Die besten Britpop-Alben der 90er Jahre III: Obskur, vergessen, zweite Reihe?

Auf zur dritten Britpop-Retrospektive. Nachdem zuvor die wahren Genregrößen und Schwergewichte an der Reihe waren, werfen wir in dieser Bestenliste einen Blick auf die etwas obskureren, teilweise damals nicht beachteten, teilweise heute vergessenen Werke der Ära. Natürlich alles mit einem Fragezeichen versehen, denn Dank der ausgezeichneten britischen Musikpresse ist jede noch so kleine Nischenband retrospektiv ganz gut abgedeckt. Aber gerade die deutsche Zuhörerschaft dürfte hier vielleicht doch noch die eine oder andere bis dato unbekannte, ungehörte Perle finden. Und wenn nicht, sich zumindest daran erinnern, dass es auch ein Britpop-Leben neben Oasis, Blur, Pulp und Suede gibt.

My Life Story – Mornington Crescent

(Mother Tongue, 1995)

Irgendwie soll Britpop ja schon groß sein… sonst fehlt irgendwas. Die relativ kurzlebigen My Life Story (nach drei Alben war im Jahr 2000 schon wieder Schluss) haben Größe immer in einer wunderbar unrockigen Opulenz gefunden. Ihr Debüt „Mornington Crescent“ lebt von kleinen, pittoresken Popsongs, die sich aus einfachen Rhythmen zu orchestralen Minimalepen hochschwingen. Irgendwie dem einzelnen Song verpflichtet und dann doch gewaltig mit Romantik, epischer Eleganz und, ja, auch Kitsch flirtend, ist „Mornington Crescent“ so etwas wie eine kleine Britpop-Märchensammlung mit Artrock-Charme: Verspielt, artsy, üppig, aber nie zu überladen, sondern in seiner Ambition sich auch immer eine gewisse Fragilität bewahrend. Leider war damit Mitte der rockdominierten 90er Jahre nicht viel zu holen, und so haben My Life Story nie in den größten Britpop-Zirkeln mitgespielt. Trotzdem wird es Mitte der 2000er zu einigen Reunion-Auftritten und einer Best-of-Compilation kommen und 2019 erscheint mit „World Citizen“ sogar ein viertes Album, das von der Musikpresse sehr wohlwollend aufgenommen wird. Vielleicht ne ganz gute Gelegenheit sich auch diesem etwas in Vergessenheit geratenen Mitt-90er Glanzstück zu widmen. Es hat es verdient.

The Divine Comedy – Casanova

(Setanta, 1996)

Die eigentlich großen, verspielten Romantiker des 90er Jahre Britpop sind allerdings The Divine Comedy, die im Gegensatz zu My Life Story auch nicht in Vergessenheit geraten sind und bis zum heutigen Tag fantastische Musik veröffentlichen. Ihr viertes Album – Casanova – war gegen Mitte der 90er mit dafür verantwortlich, dass die Mannen um Neil Hannon (immerhin schon seit 1989 aktiv) einer breiteren Öffentlichkeit bekannt werden sollten. Und das ist schon außergewöhnlich, wenn man bedenkt, wie das klingt, was sie hier spielen: Casanova ist ein Chamber Pop Kleinod, absolut unzeitgemäß, komplett aus der Zeit gefallen und genau deswegen im Gegensatz zu vielen Britpop-Outputs der damaligen Dekade vollkommen unangetastet vom Zahn der Zeit. In seiner Orchestralität dennoch erstaunlich intim und berührend gelingt „The Divine Comedy“ hier die perfekte Kombination aus Dekadenz und Introspektion. Casanova ist ein üppiger Hedonist, zugleich aber auch ein schüchternes Kind: Schillernd, funkelnd, aber eben auch scheu, zurückgezogen und spröde. Großartiger Artpop, der sich nicht um Zeitgeist schert, sondern nach der in der Geschichte vergrabenen Romantik sucht, begleitet von der großartigen Stimme Neil Hannons und einem gewaltigen Fundus an Streichern, Bläsern und elektrischen Piano-Disruptionen. Wer keine Angst vor ein bisschen Prätentiösität hat, dürfte hier die schönste „Kammermusik“ bekommen, die der Britpop in den 90ern möglich gemacht hat.

60 FT. Dolls – The Big 3

(Indolent, 1996)

Kommen wir zum radikalen Gegenentwurf zu all dem romantisierten, pittoresken kammermusikalischen Pop. 60 FT. Dolls spielen Rock N Roll der ganz alten Schule. Auf The Big 3 zelebrieren die drei Großmäuler ihre Vision von staubigem, runtergeschreddertem Garage Rock, der zwar auch ne gewisse Geschliffenheit aufweist, aber alles in allem doch deutlich rauher und roher daherkommt als vieles, was man sonst vom Britpop der Zeit kennt. Immer auch ein Stück am Grunge Sound Made in USA sind Carl Bevan, Mike Cole und Richard Parfitt fast schon die Quintessenz passionierter, lebendiger Rock-Musik, die auf alle überflüssigen Schnörkel verzichtet. So klingen sie auch oft ein gutes Stück frischer, ungezwungener als die anderen Rockgiganten aus UK. Im Vordergrund steht hier der Spaß am Leben, der Spaß an einfacher Musik, der Spaß am Rock N Roll, der nicht mehr ganz Punk ist, aber deswegen noch lange nicht seinen Hedonismus und seine Attitude aufgeben will.

The Bluetones – Expecting to Fly

(Superior Quality, 1996)

Keine Ahnung, ob man die Bluetones und ihr Debütalbum „Expecting to Fly“ unbedingt zu den obskuren Phänomenen des Britpop zählen darf. Immerhin schaffte es das 96er Album Oasis‘ Morning Glory für eine ganze Woche von Platz 1 der UK-Charts zu verdrängen. Nur hat man sonst – und außerhalb des Königreiches – nicht viel von ihnen gehört. Das ist schade, denn „Expecting to Fly“ ist ein – nicht nur für ein Debüt – ausgesprochen reifes und geschliffenes Album. Die Harmonien sind extrem immersiv, die Gitarrenarbeit ist bisweilen exzellent, und die gut abgemischte Produktion erzeugt ein sehr rundes Hörerlebnis. Wo es hakt? Naja, die Bluetones klingen teilweise schon verflucht ähnlich wie Oasis, vielleicht sogar wie eine etwas glattere, etwas weniger exzentrische Variante der Gallaghers: Auch hier wechseln sich elegische Rockhymnen und aufgeladene Balladen ab, auch hier gibt es die Mischung aus purer Energie und Melancholie, aus Rockstar-Attitüde und tatsächlichem Gott-Momentum. Keine andere Band hat in den 90ern derart gut den Geist von Oasis getroffen wie die Bluetones. Und selbständig genug, um nicht bloßes Plagiat zu sein, sind sie auch noch. Insofern, wenn man bedenkt, dass Oasis in der Zeit nur zwei große Alben aufgenommen haben, scheint ein „Mehr davon“ keine schlechte Sache zu sein.

Super Furry Animals – Fuzzy Logic

(Rockfield, 1996)

Also von „obskur“ oder „aus der zweiten Reihe“ zu reden ist bei Super Furry Animals natürlich nun wirklich überhaupt nicht angebracht. Schon 1995 sind die Waliser mit der „Llanfairpwllgwyngyllgogerychwyndrobwllantysiliogogogochynygofod (In Space) EP“ im Guinnes Buch der Rekorde aufgetaucht (längster Titel einer EP, was sonst). Kurz darauf sind sie beim Oasis-Label Creation gelandet und ihre Single „Hometown Unicorn“ wurde im Jahr 1996 Dank Pulp vom NME zur „Single of the Week“ gewählt (Der selbe NME, der 2005 mutmaßte, Super Furry Animals könnte die wichtigste Band der letzten 15 Jahre sein). Aber obwohl sie schon früh Kritikerlieblinge waren, haben sie es zumindest was die breite Masse betrifft aufmerksamkeitstechnisch nie ganz nach vorne geschafft. Status: Band mit den meisten Top 75 Hits, ohne jemals in den Top 10 gelandet zu sein. Und so bleibt es beim absoluten Legendenstatus in Indie- und britischen Feuilletonkreisen. Dabei haben sie bereits für ihr Albendebüt so viel mehr verdient: Fuzzy Logic ist eine Wundertüte aus poppigen, rockigen, psychedelischen und opulenten Songs. Es trägt Glam Rock Vibes ebenso in sich wie Beatles-Nostalgie, ist manchmal straight forward, manchmal unglaublich diversifiziert und bizarr. Ironischerweise wollten Super Furry Animals mit diesem Werk eine Antithese zum ihrer Meinung nach zu konservativem Britpop ablegen, sind dann aber mit diesem eklektischen, vor Vitalität sprudelnden Sound genau bei dem gelandet, was Herz und Geist des Britpop ausmacht. Fuzzy Logic steckt voller Leben, voller Wahnwitz, schert sich nicht um Kohärenz und Logik und bietet damit einige der besten Rocksongs dieser Ära.

Lush – Lovelife

(4AD, 1996)

Auch Lush sind alles andere als eine obskure Band. Zu Beginn der 90er Jahre gehören sie zu den ersten Shoegaze Acts überhaupt, dürfen gut und gerne zu den Gründerinnen des Dreampop Marke 90er gezählt werden. Umso überraschender, dass sie auf ihrem vierten Album Lovelife deutlich mehr Richtung Rock N Roll und Britpop bewegen. Vielleicht ist eine Kollaboration mit Pulp-Frontmann Jarvis Cocker Schuld, vielleicht liegt es am damaligen Zeitgeist, dem sich auch Lush nicht ganz entziehen konnten… wie auch immer, dieser Sound steht der Band verdammt gut, zumal sie dennoch nicht auf das Psychedelische, Hypnotische und Mäandernde ihrer früheren Alben verzichten. Das Ergebnis ist ein großartiger Hybrid aus Punk, Post Punk und leicht entschwebendem und dennoch gerne auch direktem Rock, der Dank der beiden starken Frontfrauen Miki Berenyi und Emma Anderson nicht wenig Riot Grrrl Power in sich trägt. Und gerade im männlich dominierten, schnell unbewusst zum Konservativen neigenden Britpop tut so etwas mehr als Not. Leider verschlug es die Band 1996 nach Amerika (das Label hatte wohl Hoffnung, dort sei die große Kohle mit diesem Sound zu machen), und ohne den rechten Erfolg Übersee, geplagt von Druck und Stress löste sich Lush noch im selben Jahr auf. Ein Glück, dass sie uns vorher dieses Album und damit die harmonischste Evolution vom Dream- zum Britpop hinterlassen haben.

Mansun – Attack of the Grey Lantern

(Parlophone, 1997)

Beim Gedanken an die Invasion von Psychedelic, Krautrock und Prog im Britpop kommen einem gemeinhin als erstes Radiohead in den Sinn, vielleicht noch die späten Blur. Doch bereits zum Jahresstart 1997 peakte ein Album ganz oben in den UK Charts, das mindestens genau so traditionelle Avantgarde in den Sound von der Insel einfließen lässt. Mansun sind mittlerweile so ein bisschen der vergessene große Top-Act dieser Zeit, was die Ausdehnung und Sprengung moderner Popmusik betrifft: Bizarr, exzentrisch, pathetisch mit einem Augenzwinkern und irgendwie auch ein bisschen ihrer Zeit voraus. Auf ihrem Debüt „Attack of the Grey Lantern“ ist im Grunde genommen schon alles versammelt, was ihre Musik besonders macht. Es klingt verspielt, elegant, zugleich aber auch jugendlich, wild und ungestüm. Es gibt Referenzen zu den Beatles und Beach Boys, aber auch zu Pink Floyd und King Crimson. Und über allem thront dieser absurde Humor, die Freude daran, Elegisches im Rausch zu zertrümmern, die Hörerschaft nie zu sehr in Sicherheit zu wiegen, immer wieder zu überraschen und mit vielen Farben davon zu tragen. Vielleicht das Jüngste, Frischste und Unbekümmertste, was der britische Artrock dieser Zeit hervorgebracht hat. Auf späteren Alben sollten sich Mansun noch ein gutes Stück mehr Richtung Prog entwickeln, so unbedarft und frei wie auf „Attack of the Grey Lantern“ sollten sie indes nie wieder klingen.

Bands/Künstler_Innen: 60 FT. Dolls, Lush, Mansun, My Life Story, Super Furry Animals, The Bluetones, The Divine Comedy, | Genres: Alternative Rock, Art Pop, Art Rock, Britpop, Pop, Rock, | Jahrzehnt: 1990er,


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