Die besten Postrock-Alben der 90er Jahre II

Also, Butter bei die Fische: Was ist denn dieser DHL-Rock nun genau? Ich persönlich bin ja ein großer Fan der Definition von Simon Reynolds, der in die Schublade Post-Rock (Post Rock? Postrock? Whatvever!) all das steckt, was sich mit „using rock instrumentation for non-rock purposes“ umschreiben lässt. Oder um es noch abstrakter auszudrücken: Rock, der nicht nach Rock klingt. Oder zumindest nicht nach Rock N Roll. Aber dann sind wir schon bei nem ziemlichen Allgemeinplatz angekommen. Natürlich kann man zusätzlich noch wunderbar ein paar sehr konkrete Eigenschaften benennen: Die lange Komposition anstatt des eingängigen Songs… Dann tut man aber vielen großartigen Songwritern unrecht, die im Folgenden mit kurzen Stücken große Emotionen wecken. Der Verzicht auf Vocals…? Dann könnte man auch einiges der hiesigen Postrock-Bestenlisten vergessen. Düstere apokalyptische Visionen…? Dafür findet sich im Postrock zu viel Entspanntes, Jazziges, Loungiges und auch Lebensbejahendes. Ambient-inspiriert? Auch hier würden die Experimentierer und Avantgardisten der Szene heftig mit dem Kopf schütteln.

Vielleicht bleibt es doch beim Abstrakten und Vagen, und jeder darf sich selbst ein wenig seinen eigenen Reim drauf machen, was er nun unter Postrock verstehen möchte. Fest steht, diese junge musikalische Neuorientierung hat in ihrer doch recht kurzen Hochphase eine Menge großer Alben hervorgebracht, die dem ganzen RockDroneProgExperimental-Musikzirkus verdammt viele Impulse und Inspirationen hinterlässt… Und tot ist Postrock ohnehin noch lange nicht, auch wenn er seit den 2010er Jahren des öfteren etwas aufgewärmt klingt.

Stars of the Lid – The Ballasted Orchestra

(Kranky, 1997)

Es wird ja oft und gerne behauptet, dass Postrock die Musik für das eigene ganz persönliche Kopfkino ist. In diesem Fall sind Stars of the Lid für den persönlichen Gruselfilm im Kopf verantwortlich, allerdings nicht im Sinne von laut schreiendem Horror, sondern viel mehr von der ätherischen Sorte. Was „The Ballasted Orchestra“ hier fabriziert ist Geistermusik, die ihr unheimliches Momentum vor allem aus dem Auslassen bezieht. Weniger ist weniger ist mehr. Wir kriegen keine Jumpscares, keine brodelnden Horrormomente, keine verstörenden Alpträume; stattdessen entsteht die unheimliche Atmosphäre vor allem durch die Stille, durch die bewusste Zurückhaltung des Orchesters, das viel mehr wie ein Kammermusik-Ensemble daherkommt. Mysterien und Unausgesprochenes inbegriffen. Zwischen hauchzartem Noise, subtilem Industrial und verspielten, fragmentierten Zitaten ist das dritte Album von „Stars of the Lid“ eine tiefe Verbeugung vor dem Surrealismus, dem Ungewöhnlichen, Unbekannten und Außerirdischen. Nicht zuletzt auch ganz konkret mit inoffiziellen Hymnen für David Lynchs Twin Peaks, ein Universum in das das ballastgeladene Orchester perfekt hineinpassen würde.

Swans – Soundtracks for the Blind

(Young God, 1997)

Düsternis, oh ja, das hatten die Swans auch schon immer drauf. Den Noise und Post-Punk früherer Tage haben sie auf ihrem zehnten Album längst hinter sich gelassen, und Dank absurd hoher Experimentierfreude ist die Band um Michael Gira ohnehin nie Gefahr gelaufen, langweilig zur werden oder sich zu wiederholen. Diese Tatsache stellt diese Jubiläums-LP eindrucksvoll unter Beweis, ein Gesamtwerk in dem Noise und Experimental eine wunderbare Melange mit Post Punk und Ambient eingehen. Die Schwäne haben sich genau genommen ja schon immer allen Schubladen entzogen. Vielleicht passt gerade deswegen die neue Schublade Postrock so gut zu ihnen. Und ja, sie machen tatsächlich verdammt viel, was man in dieser permanent findet: Die Atmosphäre scheint immer ein Stück wichtiger zu sein als der Song, unabhängig davon ob im kurzen Krach oder ausgedehnten Epos. Strukturen sind immer auch dazu da, um niedergerissen zu werden, und die Erinnerung an die Rockmusik ist stets eine entfernte, vage. Soundtracks for the Blind ist ein fantastisches Album einer immer wieder überraschenden Band, der es auch hier wieder gelingt im Experiment nie den Sound aus den Augen zu verlieren.

Pram – Sargasso Sea

(Too Pure, 1995)

Düster sind Pram nicht, auch wenn ihre Musik ein nicht zu fassendes dunkles Geheimnis mit sich zu tragen scheint. Im Vordergrund von „Sargasso Sea“ steht jedoch weniger die Aufdeckung dieses Geheimnisses als viel mehr die Ablenkung davon, und das in einem verspielten und ziemlich abgehobenen Trip, der Psychdelisches mit Kälte kreuzt, Funk mit Stille kombiniert und sich damit irgendwo an der Schwelle zwischen Trip Hop und Neo-psychedelia bewegt. Und dann macht es etwas, was im Postrock äußerst rar ist… und was man zugleich gerne viel öfter in seinen Kompositionen und musikalischen Landschaften finden würde: Es macht Spaß. Und zwar gewaltig. Poppiger Gesang taumelt ins Geschehen, Hooklines werden angedeutet, Songstrukturen entwickelt, und dann wird alles in einem entspannten Drogenrausch ganz langsam zu Bett gelegt. Sargasso Sea ist nie zu zurückgelehnt, wird nie zum Slackerrock, schert sich aber nicht einen Cent um all die Aufregung, die unter seinen diversifizierten Tönen begraben sein könnte. Stattdessen lächelt es dir entgegen und flüstert: „Keine Sorge, ich will nur spielen!“ … Und in diesem Fall spielt man nur allzu gerne mit.

Moonshake – The Sound Your Eyes Can Follow

(Too Pure, 1994)

Was macht man als Rockband eigentlich, wenn man seine halbe Besetzung der letzten Alben verloren hat? Für David Callahan und Mig Moreland war die Antwort 1994 ziemlich klar. Man verzichtet einfach auf die ganzen Instrumente, die diese beigesteuert haben, und versucht Rock N Roll irgendwie anders zu erzeugen. Und bei Gott! Gelingt dies Moonshake auf ihrer dritten LP mühelos! Ohne Unterstützung durch klassisches Gitarreninstrumentarium benutzen die auf Duo-Größe geschrumpften Multiinstrumentalisten einfach Samples, Bläser und ne Menge Störgeräusche, und klingen trotz des Verzichts rockiger als alles, was Motörhead je veröffentlicht haben. Postrock inversed, quasi: Nicht Rock-Instrumente, die nicht nach Rock klingen; sondern Nicht-Rock-Instrumente, die nach verdammt hartem Rock klingen. Inklusive rotzigem Punk-Gesang (der nicht selten an Nick Cave erinnert), inklusive postpunkiger Zersetzung, inklusive einem wilden Nach vorne Peitschen von Geräusch, Melodie, Ton und Krach. The Sound Your Eyes Can Follow ist verspielt as fuck, experimentell und räudig, dreckig und liebenswert. Die absolut rock n rolligste Seite des Postrock, und auch in diesem diversen Genre ein einzigartiges Erlebnis.

Stereolab – Dots and Loops

(Duophonic, Elektra, 1997)

Der Referenzraum des Postrock ist groß: E-Musik, Rock, Post Punk. Nicht wenige Bands werfen noch den Jazz ins Geschehen. Und Stereolab sind ganz groß dabei, wenn es darum geht, das Ganze noch mit Lounge, Electropop, Swing und Bossanova anzureichern. Ihr fünftes Album „Dots and Loops“ kreiert sich seine eigenen Wirklichkeiten, in denen es cool beschwingt und unheimlich loungig daherkommt. Trotz Krautrock-Anleihen, elektronischen Interludien und experimentellen E-Musik-Momenten wirkt dieses sehr runde Paket nie zu kalt experimentell, sondern trägt in sich eine unglaubliche Herzenswärme, eine Freude am Spiel zwischen Ton und Musik, die ansteckend und belebend wirkt.

Kreidler – Weekend

(KiffSM, 1996)

Ebenfalls jazzig, zurückgelehnt gehen die Düsseldorfer Kreidler auf ihrem zweiten Album Weekend vor. Jepp, auch die Deutschen beherrschen Postrock in den 90ern, nicht zuletzt dann, wenn sie sich tief im Fundus ihrer eigenen Musikgeschichte bedienen. Weekend ist bis in die kleinste Pore angereichert mit Inspiration von den großen Krautrock-Klassikern: Ein wenig Can hier, ein wenig Neu! da… Natürlich ein Schuss frühe Kraftwerk und ganz viel Faust. Das Ergebnis ist ein herrlich eklektischer und verspielter Schabernack, der mit viel Blubbern und Klackern auf der Stelle zu treten scheint, in den richtigen Momenten aber immer schräge Aufbrüche findet; sei es Mittels Jazz, Mittels Electropop oder einfach Mittels pointierter Stille. Weekend ist wie ein kleiner musikalischer Urlaub, Postrock in den Feierabend hinein, dabei aber weitaus komplexer, als seine entspannte Art vermuten ließe.

Do Make Say Think – Do Make Say Think

(Constellation, 1999)

Die Kanadier Do Make Say Think veröffentlichen auf dem Constellation Label und sind damit praktisch per Geburtsrecht mit Genregrößen wie Godspeed You! Black Emperor verbandelt. Im Gegensatz zu diesen suchen sie allerdings nicht nach dem großen Postrock-Kopfkino, nicht nach den elegischsten, apokalyptischsten Landschaften und aufreibendsten Emotionen. Ihre Geschwister im Geiste sind viel mehr die Postrock-Entwürfe amerikanischer Prägung, namentlich Tortoise. Und dabei scheinen sie fast wie eine radikalisierte Version deren Soundgefüges. Ihr selbsternanntes Debüt kommt ungemein jazzig daher, wagt sich zwar mitunter an Rock-Ausbrüche, scheint aber generell im Sinn zu haben, dem Postrock auf noch das letzte bisschen Rock N Roll auszutreiben. Do Make Say Think ist bis auf die Nacktheit entkleidete musikalische Landschaft, mal schwelgerisch, mal verträumt, mal widerborstig aufstrebend. Es scheint Postrock ohne Rock zu sein… und wenn der Rock dann doch hart und unerwartet ins Geschehen tritt, ist das nicht nur überraschend sondern auch extrem befriedigend. Ein kleiner Wolf im Schafspelz, der aber auch extrem bissig und gefährlich sein kann.

Cul de Sac – China Gate

(Flying Nun/Thirsty Ear, 1995)

Postrock kann manchmal auch einfach nur cool und lässig sein. Wer sich von dem sakralen, reinen Gesang täuschen lässt, mit dem China Gate eingeläutet wird, dürfte im Folgenden eine faustdicke Überraschung erleben. Cul de Sac führen ihre Zuhörer nur ganz kurz um die Irre, um dann mit einem abgehangenen Trip fortzufahren, der seinesgleichen sucht. China Gate ist Kopfkino für einen 70er Jahre Exploitationstreifen, vielleicht auch für einen Tarantinofilm. Es spielt mit Funk, Krautrock und abgehangenem Noise, um daraus einen Sound zu kreieren, der nach Midnight Theatre und Blue Movies klingt. Trotz der deutlich unterkühlten Noise- und gar Industrialanleihen entsteht so eine ebenso intime wie makabere Stimmung, der Eklektizismus scheint jederzeit von einem Augenzwinkern begleitet, die Atmosphäre immer von einem ironischen Schmunzeln durchzogen.

Múm – Yesterday Was Dramatic – Today Is OK

(TMT, 1999)

Beim Postrock gilt immer die Devise: Es geht auch noch ein bisschen weniger Rock N Roll… und noch weniger… und noch weniger, bis man schließlich da ankommt, wo die Isländer Múm stehen. Wie ihre Landsmänner Sigur Rós spielen auch Múm auf ihrem Debüt „Yesterday Was Dramatic – Today Is OK“ sphärische und ätherische Musik, sind allerdings noch konsequenter bei dem Gedanken, den Rock komplett hinter sich zu machen. Dagegen stellen sie sanfte, minimalistische Electronica, leise, flüchtige Geräusche, subtile flüchtende Töne und – man kann es nicht anders sagen – sehr viel Herz. Múm sind so etwas wie die unbedarfte, vielleicht auch ein wenig naive Kehrseite von Sigur Rós. Düsteres oder Mysteriöses ist in ihrem Sound kaum zu finden, viel mehr leben ihre fragilen Kompositionen von einer ungemeinen Herzlichkeit, die sich 1:1 auf ihr Publikum überträgt. Es gibt nur wenig minimalistische Musik, die derart glücklich macht, wie die, die auf „Yesterday Was Dramatic – Today Is OK“ zu finden ist: Pure Schönheit im Kleinen, pure Erfüllung im Unerfüllten. Dieses Album ist ein in Musik transzendentiertes Lächeln, ein zaghafter Hoffnungsschimmer, der gerade durch seine Zurückhaltung unfassbar stark und einnehmend daher kommt.

Bands/Künstler_Innen: Cul de Sac, Do Make Say Think, Kreidler, Moonshake, Pram, Stars of the Lid, Stereolab, Swans, | Genres: Art Rock, Avantgarde / Experimental, Electro, Jazz, Klassik / E-Musik, Krautrock, Post-Punk, Post-Rock, | Jahrzehnt: 1990er,


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