Die 90er Jahre: Die besten Alben der Hamburger Schule

In den 90er Jahren sollte sich im deutschsprachigen Raum ein Hybrid aus Punk und intellektuellem Indie Rock bilden, der bis tief in die 2000er Jahre einen enormen Einfluss auf die Entwicklung der deutschen Poplandschaft hatte. Die Hamburger Schule war so etwas wie der Gegenentwurf zur Neuen Deutschen Welle der 80er Jahre, aber auch zum Deutschpunk und zur laut polternden Rockmusik Made in Germany, wie sie in den frühen 90er Jahre popularisiert worden war. Was zeichnet ihre Vertreter aus? Vielleicht ist es der Hang zur Ironisierung, zur Meta-Sprache und zum doppelten Boden, der die Hamburger Schule eindeutig in den 90er Jahren verortet und zugleich ein Gegengewicht zum pathosgeladenen Metal und sprachlich und musikalisch direkten Punkrock darstellt. Vielleicht ist es die Freude am postmodernen Spiel, an der Dekonstruktion, am Philosophischen und Abstrakten, die die Musik sowohl auf Produktions- als auch Rezeptionsseite eher im akademischen Milieu beheimatet (Stichwort: Studentenrock). Vielleicht ist es auch der Mut zu einer anderen Form von Authentizität, zur Ehrlichkeit fern von Machogehabe und Working Class Attitude. Natürlich ist es der diversifizierte, spielerische und pittoreske Gebrauch der deutschen Sprache, der diese Musik klar zu einem regionalen DACH-Ereignis macht. Und es ist der Eklektizismus, die Referenzfreude Richtung Punk, Grunge, US-Indie, der diese Musik von den sonst etwas trägen, wenig progressiven deutschen Musikoutputs der Zeit abhebt. Wie auch immer, die Hamburger Schule ist in den 90ern mit für die besten deutschsprachigen Alben überhaupt verantwortlich und ähnlich wie andere länderspezifische Genres (z.B. der Britpop) absolut hörenswerte Musikgeschichte. Und das sind ihre essentiellen Alben.

Blumfeld – Ich-Maschine

(Indigo, 1992)

Starten wir doch einfach mit dem wohl wichtigsten und einflussreichsten Album der Hamburger Schule. Auch 30 Jahre nach seiner Veröffentlichung hat Ich-Maschine nichts von seiner Faszination eingebüßt. Jochen Distelmeyer und Co. spielen eine wild verschleppte Mischung aus Indie Rock, artifiziellem Pop und verlorenem Noise Rock, der mal auf der Stelle rennt und mal in die Ferne tritt. Charakteristisch ist ohne jeden Zweifel der suchende, verzweifelte, strebende Gesang von Distelmeyer, der immer knapp am Gesprochenen vorbeirauscht, ohne jemals zu reinem Sprechgesang zu werden. Aber auch das Mäandern zwischen Melancholie und Aufbruch, die Gitarren zwischen verspieltem Indie à la Pixies und hartem Noise Rock nach Sonic Youth Manier sorgen dafür, dass das Album über sein Publikum rauscht wie ein verlorener Fiebertraum. Die Ich-Maschine packt und lässt nicht los. Vollkommen unabhängig von der musikhistorischen Bedeutung ein großes Stück dichter und verworrener Indie Rock.

Cpt. Kirk &. – Reformhölle

(What’s So Funny About., 1992)

Die Popularität von Blumfeld oder auch Tocotronic sollten Cpt. Kirk &. in der deutschen Musiklandschaft nie erreichen. Dabei ist auch diese Band schon seit den späten 80ern in Hamburg unterwegs. Was sie auf Reformhölle abliefern ist dabei wirklich einzigartig. Im Gegensatz zum bekannteren Kollegium orientieren sich weniger an Noise und Indie Rock als viel mehr an experimenteller und avantgardistischer Musik, beeinflusst von Jazz, Krautrock und moderner minimalistischer E-Musik sind sie schon fast so etwas wie die deutsche Antwort auf den in den 90ern entstandenen Postrock aus Nordamerika. Die dominierenden Instrumente sind hier nicht die Gitarren, sondern Piano, Bass und Bläser. Die Rhythmen sind verspielt und durcheinander, es klimpert und rauscht hinter jeder Ecke, die Songs bauen sich weniger auf Melodien auf und mehr auf Stimmung und Spiel. Reformhölle ist ein faszinierendes Stück Avantgarde-Schaulauf, zusammengehalten vom fragilen, verlorenen und zugleich fordernden Gesang Tobias Levins, getragen von einem unbedingten Willen Neues, Andersartiges und Eigenartiges zu finden.

Die Antwort – #1

(Königshaus, 1991)

Genau genommen ist der gebürtige Braunschweiger Bernd Begemann kein Kind der Hamburger Schule, aber es ist durchaus stimmig ihn als einer ihrer Väter zu bezeichnen. So leistete der Liedermacher durch gemeinsame Auftritte Geburtshilfe für Bands wie Die Sterne oder Blumfeld, und so hatte seine Herangehensweise an Musik einen nicht unerheblichen Einfluss auf das Selbstverständnis vieler norddeutscher Bands. Mit seiner Band Die Antwort veröffentlichte er in den 90ern drei Alben, von denen die Nummer 1 ohne jeden Zweifel das stärkste ist. Auf #1 spielt die Antwort eine wundervolle Mischung aus Blues, traditionellem Rock N Roll und Soul, und kuschelt sich dabei ganz stark an den Pop an. Das Fundament ist aber auch hier Authentizität. Die Musik kommt direkt von den Musizierenden, als Publikum fühlt man sich direkt in den Proberaum versetzt, es scheint keine Filter zwischen Gespieltem und Zuhörenden zu geben, und die abswechslungsreichen Songs klingen trotz aller Verspieltheit immer geerdet und mitreißend. Ein großartiges Stück deutscher Popmusik, das beweist, dass man nicht immer schwer und akademisch an seine Sujets herangehen muss, um clever und originell zu klingen.

Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs – Absolut nicht frei

(L’Age d’Or, 1992)

Bester deutscher Bandname ever? Womöglich. Man sollte sich aber nicht von dem albern wie bizarr klingenden Namen täuschen lassen. Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs machen keine gaga dada Musik, sondern spielen eine faszinierende Mischung aus schwermütigem Indie Rock und pittoreskem Krautrock, der seine Inspiration von Artrock Klassikern wie Amon Düül oder CAN nie leugnet und sich voll reinwirft in das Wechselbad zwischen Experiment, Avantgarde und poppigem Rock. „Absolut nicht frei“ klingt in vielen Momenten anders, nicht nur wie die allgemeine deutsche Poplandschaft seiner Zeit, sondern auch wie die Avantgarde der Hamburger Schule. Verknotet, verloren, kompromisslos nach dem Abwegigen im Melodischen und dem melodischen im Abwegigen suchend. Primär mit englischen Texten arbeitend sind Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs auch immer ein wenig die internationalen Prog-Vertreter der Hamburger Schule, aberwitzig, außerweltlich und weit weg von jeder Konformität. Das erinnert dann auch gerne an internationale Experimentalrock-Bands der Zeit wie Slint oder Nomeansno. Das darf dann auch gerne als einer der frühesten Entwürfe des Math Rock betrachtet werden. Wer sich an ein wenig noch Experimentelleres heranwagt, sollte Keinseier aus dem Jahr 1994 eine Chance geben. Hierauf verzichten Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs komplett auf Songs und kreieren eine streng durchnumerierte Abfolge dekonstruktivistischer, rein instrumentaler Soundfragmente.

Kolossale Jugend – Leopard II

(L’Age D’Or, 1990)

Wenn nach dem ersten Album der Hamburger Schule gefragt wird, wird gerne auf Blumfelds Ich-Maschine oder die Reformhölle von Cpt. Kirk &. verwiesen (nicht zuletzt auch weil deren fast zeitgleiche Veröffentlichung 1992 Thomas Groß in der TAZ diesen Begriff entwerfen ließ). Gut zwei Jahre früher erscheint ein Album, das vielleicht die definitive Antwort auf die Frage nach den Ursprüngen dieser neuen deutschen Musik ist. Kolossale Jugend sind dicht dran an minimalistischem, verschrobenem Punkrock (immerhin benannt nach dem einzigen Album von Young Marble Giants), suchen in dieser Referenz aber auch nach etwas anderem. Sänger Kristof Schreuf schreit seine Gedanken ungefiltert heraus, während die Instrumente immer ein wenig über sich selbst zu stolpern scheinen. Doch stellt die Musik auf Leopard II nicht nur sich selbst Beine sondern auch dem Publikum, verschleppt ihre Sounds und klingt deutlich abgehangener, als man es von traditionellem Punkrock kennt. Ein faszinierendes Bindeglied zwischen rohem, geerdeten Rock und der Abstraktheit, die später als so stilbildend für die Hamburger Schule gelten sollte.

Tocotronic – Digital ist besser

(L’age d’or, 1995)

Neben Blumfeld gehören Tocotronic womöglich zu den bekanntesten Indie Rock Bands aus Hamburg. Auf ihrem Debüt „Digital ist besser“ aus dem Jahr 1995 klingen sie noch deutlich rauer, ungeschliffener und auch pointierter als auf ihren späteren Alben, die sie zu waren Größen der deutschen Musiklandschaft werden ließen. Die Songs sind kurz, auf den Punkt gebracht, mitunter in ihrer Direktheit fast fragmentarisch, und durch die rohe, wüste Abmischung ziemlich versumpft. Und dennoch spielt hier nicht nur der Bauch, auch der Hang zum Verkopften, zum Philosophieren und sich im Kreis Drehen ist auf „Digital ist besser“ schon vorhanden. Mancher mag noch ein wenig den Feinschliff späterer Tocotronic-Outputs vermissen, dafür haben wir es hier aber mit einem echten Rohdiamanten zu tun, dessen nicht domestizierte Energie einen ganz besonderen Charme hat. Und damit geht „Digital ist besser“ auch darüber hinaus, bloß ein Stück Musikgeschichte zu sein. Es ist ein großes Album im kleinen, voller ungezügelter, authentischer Songs, die einfach rocken, ohne jemals trivial zu werden.

Die goldenen Zitronen – Das bisschen Totschlag

(Sub Up, 1994)

Nicht wenige Punks der 80er Jahre erweiterten in den 90er Jahren ihren Sound, um bei dem kreativen, progressiven und avantgardistischen Moment zu landen, das auch für die Hamburger Schule so konstituierend sein sollte. Und keine andere Band war dabei derart konsequent wie die goldenen Zitronen. Aus albernem und infantilen Fun Punk kommend entdecken die Mannen um Schorsch Kamerun den Free Jazz, den Krautrock, experimentelle Klänge und verweben diese Zutaten auf „Das bisschen Totschlag“ zum ersten Mal zu einem ganz eigenartigen, anarchischen Stück Kunstkacke. Die goldenen Zitronen sind hier so etwas wie die Erzähler der deutschen Popmusik, allerdings nicht traditionelle Geschichtenerzähler, sondern desorientierte, wütende Anti-Geschichten-Erzähler, ihre Songs bestehen aus derben Klangfetzen, getrieben von dem lauten, hektischen Sprechgesang Kameruns, sich in Details und Chaos verlierend. Assoziativ werden Gewissheiten beschworen und wieder aufgebrochen, Gedanken verlieren sich in Chaos, während die Musik zwischen elektronischem Experiment, krautigen Jam und gewaltigem Noise oszilliert. Für Fans traditionellen Punks ein Schock, für Pop-Enthusiasten mitunter unhörbar, aber hinter diesem lauten, uneingängigen und dissoziativen Rausch steht ein Konzept: Es geht um ein Maximum künstlerischer Freiheit, darum den Punk-Gedanken weiterzuführen, nicht bei Rock stehen zu bleiben, nicht langweilig zu werden. Vielleicht das Schwerste, Sprödeste und auch Anstrengendste, was das Hamburg der Zeit zu bieten hat. Aber auch ein beeindruckendes Monument in der deutschen Musiklandschaft und vielleicht sogar das beste Album der Zitronen.

Motion – Ex-Leben / Land, Meer

(What’s So Funny About, 1993)

Deutsche Rock- und Popmusik in den 80ern und 90ern…? An einer Erwähnung von Rocko Schamoni kommt man da nicht vorbei. Der Hamburger Liedermacher durchfuhr die Musikszene der Zeit mit einer eigenartigen Form von Anti-Schlager, die weder mehrheitstauglich war, noch so richtig im Untergrund auftrumpfen konnte. Immer zwischen Kitsch und Wahnsinn balancierend, den Groove im Anschlag, aber eben auch mit einer großen Liebe für das Pittoreske, das für die deutsche Musikgeschichte so kennzeichnend ist. Nix für den Mainstream, nix für die Nische… aber die Musikschaffenden der Zeit, die liebten ihn. Egal ob die Ärzte und die Toten Hosen oder eben Jungs aus Hamburg wie die goldenen Zitronen. Alle wollten mit ihm arbeiten und etwas von seinem Glanz abhaben. Mit Schorsch Kamerun und Ale Dumbsky von den Goldenen Zitronen bildete Schamoni die äußerst kurzlebige Band Motion, die im Gegensatz zu seinen Soloveröffentlichungen ganz nah dran ist an dem, was man unter der Hamburger Schule subsumieren würde. Auf „Ex-Leben / Land, Meer“ spielt diese seltsam eklektische Combo einen ebenso seltsam eklektischen Sound, irgendwo zwischen Artrock, Kraut und Punk mit Pop-Appeal. Das rockt ganz schön, ist ziemlich derb und für Schamoni-Verhältnisse auch ziemlich spröde und bewusst dilettantisch. Aber genau damit auch sein hamburgischst schulischstes Werk… oder so. Für Zitronen-Fans ein Pflichtkauf, für Schamoni-Fans vielleicht ein kleiner Schock, aber auch ein guter Beweis dafür, was der Mann neben seinen Schlagereskapaden noch so zu bieten hat.

Die Sterne – Posen

(L’age d’Or, 1996)

Mit ihrem dritten Album Posen loten Die Sterne aus, wie viel Pop im Rahmen der Hamburger Schule möglich ist. Und die Antwort kann nur sein: Sehr viel. Posen ist eine großartige Sammlung hitträchtiger Songs, die mit „Was hat dich bloß so ruiniert?“ sogar einen waschechten Schlager an Bord hat, den wohl so ziemlich jedes Spät-90er-Jahre MTV-Kind mitsingen kann. Man täte Frank Spilker und seinen Leuten aber Unrecht, sie auf einen bloß weiteren Indie Pop Act zu reduzieren. Dafür sind sie viel zu virtuos darin, das Abstrakte, Postmoderne und Akademische des Hamburger Indie Rock mit Jazzigem, Funkigen und Poppigem zu verknüpfen. Posen ist so etwas wie die perfekte Synthese aus Sprödigkeit und Eingängigkeit, immer nach dem bestmöglichen Song suchend, immer aber auch darauf lauernd, diesen mit allerlei Spielereien zu sezieren oder gar zu zertrümmern. Gerade dieser Mut zur Romantik, zum Schwelgen, dieser Mut zum Ohrwurm und zur Melodie sollte später enormen Einfluss auf den weiteren Weg vieler Hamburger Bands haben. Der Weg zum Pop, wie er von Tomte oder Kettcar in den 2000ern beschritten wird, hier wird er vorgelegt… und vielleicht qualitativ stärker als bei allem, was folgen sollte.

Tomte – Du weißt, was ich meine

(Indigo, 1998)

Habe ich schon gesagt, dass ich alles andere als der größte Tomte-Fan bin? Gerade die in den 2000ern gefeierten „Hinter all diesen Fenstern“ und „Buchstaben über der Stadt“ sind mir oft zu weinerlich, mit zu viel Pathos durchzogen und zu selbstverliebt hymnisch. Anyway. Mein liebstes Tomte-Album liegt vor dieser Zeit und heißt „Du weißt, was ich meine“. Vielleicht liegt es daran, dass Tomte hier in ihrem Spiel mit den Emotionen noch nicht so versiert, noch nicht so forcierend sind, dass sie dadurch noch eine gewisse Unbekümmertheit in sich tragen (die Sänger Thees Uhlmann später Solo wiederentdecken wird), vielleicht liegt es daran, dass die Gitarrenwände noch ein wenig schroffer sind, der Punk noch ein wenig präsenter. Vielleicht liegt es aber auch schlicht und ergreifend daran, dass sich hier die besten Songs finden, die Tomte in ihrer Karriere produziert haben. Denn natürlich hat dieses 98er Werk schon sehr viel von seinen Nachfolgern: Es gibt große Melodien, viel Pathos und Herzschmerz, aber eben auch akademischen Diskurs und charmante, nie zu laute Indie Rock Wut. Wer die späteren Tomte liebt, findet hier bereits alle Ansätze für das, was sie zu Größen des deutschen Indie Rocks machen sollte. Und wer den späteren Tomte wenig abgewinnen kann, sollte diesem Debüt dennoch eine Chance geben, liegt doch der Schlüssel seiner Stärke im Schroffen, Unbetrübten und mutig Unperfektem, in der Unausgegorenheit, die Tomte später leider zu Gunsten der ganz ganz großen Songs ablegen sollten.

Kante – Zwischen den Orten

(Kitty-Yo, 1997)

Mehr Postrock innerhalb der Hamburger Schule als bei Kante gibt es nicht. Und Postrock findet sich in keinem anderen Kante-Album mehr als in ihrem Debüt „Zwischen den Orten“. Während die anderen Norddeutschen sich sehr an Punk Rock, Jazz oder Experimental orientieren, kreieren Kante hier einen ganz eigentümlichen, einzigartigen Sound, der die großen Harmonien beschwört und diese in zurückgelehnten und zugleich aufreibenden Kompositionen verarbeitet. Die Vocals von Peter Thiessen sind im Gegensatz zu späteren Alben noch spärlich vertreten, es dominiert das Instrumentelle, verziert mit elektronischen Momenten, vorgetragen von Rockinstrumenten, die sich sichtlich Mühe geben nicht nach Rock zu klingen. Und obwohl das norddeutsche Flair hier omnipräsent ist, erinnert nicht wenig an den Postrock nordamerikanischer und kanadischer Prägung. Kante sind gerade in ihrem Frühwerk mehr Tortoise oder Godspeed You! Black Emperor denn Tocotronic oder Blumfeld. Sie verlieren sich in großangelegten Soundlandschaften, die ein ganz eigenes Kopfkino erzeugen, und sie breiten diese Verlorenheit wie einen warmen Teppich über ihren Hörern aus. Über Zombi bis zu „Die Tiere sind unruhig“ sollten Kante später den Weg zu mehr „standardisiertem“ Indie Rock der Hamburger Schule gehen, so originell und einzigartig wie auf ihrem Erstling sollten sie indes nie wieder sein.

Blumfeld – L’état et moi

(Zickzack, 1994)

Mit „Ich-Maschine“ gründen Blumfeld die Hamburger Schule mit, mit der zwei Jahre später veröffentlichten LP „L’état et moi“ perfektionieren sie sie. Die pittoresken Stücke auf diesem Meisterwerk sind nochmal ein gutes Stück introspektiver geworden, aber auch referenzfreudiger. Wo auf Ich-Maschine noch der Punk hervorlugt, spielt Jochen Distelmeyer hier mit deutlich mehr Genres, ohne dies je zu verbergen. Wir finden romantisierte Artefakte von Post Punk, auf die Knochen heruntergebrochene Shoegaze-Momente und viel viel Pop. Ja, „L’état et moi“ ist auch anschmiegsamer als sein älterer Bruder, gibt das Gefühl, dass es auch im Radio laufen könnte, ja wahrscheinlich sogar sollte, von ihrem Biss haben Blumfeld dennoch nichts verloren. So befindet sich die Platte im ständigen Zweikampf zwischen Distelmeyers komplexen, aufgeriebenen Erzählungen und den hymnischen Instrumentalwellen, die um sie herumfließen, sich erheben und wieder zusammenstürzen. Der Staat und Ich, wie passend, wird die Introspektionen doch ständig durch den Imperativ aufgebrochen, durch das Streben nach draußen, direkt zu uns oder ganz ganz weit weg. „L’état et moi“ ist ein verschlungener Dämon, bei dem man nie genau weiß, wie viele Köpfe, wie viele Körper er denn nun wirklich besitzt… sogar tanzbar ist er hin und wieder, in seinem Kampf mit sich selbst, in seinem Oszillieren zwischen den Stimmungen aber stets ein rundes Gesamtwerk.

Die goldenen Zitronen – Economy Class

(Sub Up, 1996)

Wo sich Blumfeld gegen Mitte der 90er Jahre an den Pop anschmiegen und sich Richtung Publikum jenseits des Hamburger Schule Umfelds bewegen, gehen die goldenen Zitronen den exakt entgegengesetzten Weg. Auf „Economy Class“ findet sich nicht mehr Punk als auf seinem Vorgänger, dafür aber noch mehr Experiment, noch mehr Zersplitterung und Zerfaserung. Dass die goldenen Zitronen nicht für eingängige Musik stehen, geschenkt. Das weiß man auch zu dieser Zeit schon länger. Wie gewagt sie hier aber auch über ihre eigenen Grenzen hinausgehen, das ist schon beeindruckend. Economy Class schreddert durch Jazz, Krautrock, Avantgarde, Chaoscore, Mathrock und Extreme Metal. Und in dem über uns hereinbrechenden Krach erzählt Schorsch Kamerun die für ihn so charakteristischen Anti-Geschichten, die meistens nur aus Impressionen, aus Gedankenfetzen oder verstörenden Alltagsbeobachtungen bestehen. „Also ich mag Easy-Listening“ heißt es dann, während das, was im Hintergrund geschieht nicht weiter von diesem Statement entfernt sein könnte. Da darf dann auch Zappaesker Wahnsinn, Zeuhl und vom Punk zu Boden getretener Progrock zitiert werden, so lange es zerfasert genug ist, geht eben doch alles. Economy Class ist vielleicht das eklektischste Werk der Zitronen, ein gehässiges Anti-Statement, gegen Zeitgeist, gegen Vereinnahmung und gegen alles, was es dem Publikum zu leicht machen könnte.

Tocotronic – K.O.O.K.

(L’age d’or, 1999)

Von allen Hamburger Schule Bands haben Tocotronic im Laufe der 90er Jahre wohl die spannendste musikalische Entwicklung durchgemacht. Und K.O.O.K. ist so etwas wie ein Abschluss dieser Entwicklung und vielleicht sogar so etwas wie eine abschließende Klammer um die Hamburger Schule der 90er Jahre ganz allgemein: Auch hier ist alles – ganz ähnlich wie beim Blumfeld – introspektiver geworden, nachdenklicher und verträumter. Tocotronic brechen aber nicht nur mit derbem Punk Rock, sondern dekonstruieren den Rock N Roll Gedanken ganz und gar als solchen. Im Mittelpunkt steht nicht mehr der Alltag, sondern das Abstraktum; die Texte sind verkopfter, die Melodien sind universeller und verwobener, versetzt mit Einflüssen aus der elektronischen Musik, mit Ambient und Minimalismus. Let There Be Rock heißt es da an einer Stelle, aber man wähnt Tocotronic weiter entfernt vom Rock als je zuvor. Gegangen ist das Schroffe, das imporovisiert Klingende, fort ist die ungefilterte Wut, geblieben sind die mitreißenden Melodien, geblieben ist die Freude am Hymnischen und Gewaltigen. K.O.O.K. fließt dahin wie ein starker Fluss aus Musik und Gedanken, der Dank seines immer authentisch klingenden Pathos‘ alles mit sich reißt, das bereit ist sich auf seine Verkopftheit einzulassen.

Bands/Künstler_Innen: Blumfeld, Cpt. Kirk &., Die Antwort, Die goldenen Zitronen, Die Sterne, Kante, Kolossale Jugend, Motion, Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs, Rocko Schamoni, Tocotronic, Tomte, | Genres: Alternative Rock, Art Rock, Avantgarde / Experimental, Indie, Rock, | Jahrzehnt: 1990er,


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