Die besten Grunge Alben der 90er Jahre V

Das Jahr 1993 stellt so etwas wie eine Konsolidierungszeit des Grunges dar. Bands, die in den Jahren zuvor den Hype maßgeblich mitgeprägt haben, veröffentlichen neue Alben, die sich auf die ein oder andere Weise von ihren Vorgängern unterscheiden. Hierbei stechen vor allem Nirvana und Pearl Jam hervor, die sich beide auf recht ähnliche Art aus dem MTV- und Radio-Dunstkreis entfernen. Love Battery – die allerdings nie groß Gefahr liefen, von der Masse rezipiert zu werden – dagegen, kämpfen gegen eine Menge exogener Schwierigkeiten an und kreieren damit eines der wohl am meisten unterschätzten Genrewerke dieser Zeit. Die Smashing Pumpkins weisen mit Opulenz und Überladenheit bereits über den rohen Grunge hinaus, während die Kanadier Eric’s Trip im Lo-Fi-Gewand genau die Gegenrichtung einschlagen, dabei aber auch deutlich mehr sind als „just another Seattle Sound“-Band. Daneben gibt es mit dem Debüt von Candlebox ein ziemlich prototypisches Grunge-Album für diese Zeit, das aber unter den eher uninspirierten Nirvana- und Pearl-Jam-Epigonen zu den starken Vertretern gehört. Und The Fluid spielen mit der Geschichte des Grunge, graben dabei tief hinein in die 70er und klingen doch alles andere als anachronistisch.

Love Battery – Far Gone

(Sub Pop, 1993)

Obwohl es zu den eher unbekannteren Veröffentlichungen der Peak-Grunge-Zeit gehört, ist der Meisterwerksstatus von Love Batterys Dayglo allgemein anerkannt. Anders verhält es sich mit dem rohen und verschrobenen Nachfolger Far Gone, dem oft nachgesagt wird, zu den schwächsten Veröffentlichungen der Seattler zu gehören. Das ist verständlich, denn – Hand aufs Herz – die Produktion dieses Opus ist gewöhnungsbedürftig. Gitarren, Bass und Gesang vermischen sich zu einem zähen Brei, de kaum Spitzen und Höhepunkte zulässt. Das spielt aber dem Gesamtkonzept Love Batterys in die Hände, die hier noch psychedelischer, noch mehr durchgehangen, noch verlorener klingen als zuvor. Far Gone ist ein dahin geschrammelter Mahlstrom, ein zäher, schmutziger Fluss aus Geräusch und Wahrnehmung. Wegen Vertragsunstimmigkeiten konnte die LP nicht von PolyGram Records veröffentlicht werden und erschien als roher Mix bei Sub Pop. Man könnte meinen, das schadet dem Sound (und das tun auch viele), andererseits gibt genau dieser lazy Downmix dem Album eine ganz eigene Atmosphäre, gegen die selbst so manche Garage Rock Produktionen wie auf Hochglanz poliert wirken. Far Gone atmet den Geist einer dahingeschluderten dreckigen Aufnahmesession, hinter deren spröden Fassade sich aber eine ganze Menge Rohdiamanten befinden. Allein deswegen passt es perfekt in eine Zeit, in der der Grunge Gefahr lief vom Hochglanz der Popwelt verschluckt zu werden: Eine Antithese zur Antithese und damit gar nicht so weit weg von dem, was Nirvana und Pearl Jam zur gleichen Zeit fabrizierten.

Candlebox – Candlebox

(Maverick, Warner Bros, 1993)

Schauen wir uns doch mal die Alternative an. Candlebox besitzen einfach alles, was State of the Grunge nach dem Nevermind- und Ten-Hype ist. Ihr selbstbetiteltes Debüt ist nicht weniger als ein Prototyp des im Grunge verwurzelten, an den Vorbildern orientierten und zugleich weit Richtung Charts schielenden Hard Rock. Und ja, damals im Jahre 1993 gab es viele Bands die das gemacht haben, egal ob aus Seattle oder sonstwoher. Und ja, es gibt eine Menge durchschnittliche Alben aus der Zeit in genau diesem Stil. Viel zu viele. Was Candlebox von den durchschnittlichen Genrebeiträgen abhebt, ist die Professionalität, mit der die Band dabei vorgeht. Nicht unbedingt was Production Value betrifft, sondern viel mehr die bedingungslose Hingabe zu ohrwurmreifen, durchdachten und dennoch detailverliebten Alternative Rock Songs. Es ist nicht zu viel gesagt, dass wir hier so etwas wie der Geburt des Post Grunges beiwohnen. Ein Weiterdenken der Grunge Trademarks hin zu mehr Adult Orientated Rock, hin zu mehr Glattheit, zu mehr Ordnung und Organisation. Das muss einem nicht schmecken, nicht zuletzt auch weil man Candlebox und Konsorten durchaus vorwerfen kann, gerade mit diesem Ansatz weit entfernt vom Punkt zu liegen, den der Grunge eigentlich machen wollte. Aber es gebührt doch Respekt, wie anschmiegsam und eingängig Grunge dadurch gemacht wird. Anyway, Candlebox steckt voller gelungener Hooks, rauer Grunge-Hymnen und einer verführerischen Atmosphäre. Prototyp, Stereotyp, meinetwegen, aber auch ein wirklich starkes Album.

The Fluid – Purplemetalflakemusic

(Hollywood Records, 1993)

Während andere Grunge-Vertreter dem damaligen Zeit darum bemüht sind, Grunge weiterzudenken oder zumindest 90er radiotauglich zu machen, gehen die immerhin auch schon seit den späten 80ern in Indie Rock Kreisen aktiven The Fluid einen anderen Weg: Radikaler Traditionalismus. Ihr viertes und letztes Album Purplemetalflakemusic ist eine tiefe Verbeugung vor jenen Bands, die dem Grunge unzweifelhaft als Inspiration dienten. Und so finden wir eine Menge altehrwürdigen 70er Punk, Rock direkt von der Straße, lazy Indie Rock und kleine Portion bluesigen Hard Rock in diesem unaufgeregten eklektischen Werk wieder. The Fluid gehen allerdings nicht wie pedantische Historiker vor, sondern viel mehr wie jene Partygänger, die einfach aufsaugen, was sie gut finden, wie jene Hobby-Archäologen, die eher durch Zufall über ein Juwel stolpern, die eigentlich nur da sind, um ein wenig Spaß zu haben. Und Junge, was für eine Menge Spaß bescheren sie uns auf diesem unaussprechlichen Album. Purplemetalflakemusic ist eine Erinnerung daran, das wüster Indie Rock manchmal auch einfach unterhaltsam sein darf, nicht mit Pathos, Melancholie oder Verlorenheit aufgeladen werden muss. Dass manchmal ein bisschen weniger auch mehr ist.

Eric’s Trip – Love Tara

(Sub Pop, 1993)

Es ist ja kein Geheimnis, dass die Wurzeln des 90er Jahre Grunge tief in den Lo-Fi Folk und Indie Rock der 80er Jahre hinabreichen. So sehr wie bei den bei Sub Pop – wo sonst? – gesignten Kanadiern Eric’s Trip ist das allerdings sonst nirgendwo zu hören. Die Eklektiker hinter der nordamerikanischen Ländergrenze passen zum Seattler Label wie Arsch auf Eimer: Zwischen ruhigen, minimalistischen Balladen, poppigen und punkigen Rockkrachern und allem subtil Folkigen dazwischen pendeln sie sich nicht nur perfekt in den Sound Sub Pops ein, sondern zollen auch ordentlich Tribut zu Alternative Rock Epigonen wie Dinosaur Jr., den Meat Puppets oder den Pixies. Mit Freude am Krach und der generationsbedingten Verlorenheit bringen sie aber genug Ingredienzen mit, um sich auch im Grunge heimisch zu fühlen. Love Tara bringt dabei vor allem eins: Ne Menge Spaß. Wo sich manch andere Grunge-Band der Zeit zu ernst zu nehmen scheint, zu tief im Pathos des Aufbruchs badet, spielen Eric’s Trip ihren Sound gelassen herunter, ohne sich allzu sehr aufzuplustern. Dann dürfen die Songs auch mal schlanke 70 Sekunden dauern und den Charme von unfertigem Demo-Material versprühen, ohne dass dies aufgesetzt oder fehl am Platz wirkt.

Pearl Jam – Vs.

(Epic, 1993)

Pearl Jam hatten es ja trotz – oder gerade wegen – ihres Mainstream-Erfolges nie leicht in der harten Grunge-Szene. So galten sie gerne mal als zu pathetisch, zu selbstverliebt, zu hymnisch, um überhaupt zum engsten Kreis des Seattle-Sounds zu zählen. Ihr zweites Album Vs. straft all die Kritiker Lügen, denen die Jungs um Eddie Vedder zu brav, zu bieder, zu angepasst waren. Was für ein Befreiungsschlag! Im Gegensatz zum Vorgänger Ten geht es hier deutlich rauer, roher und punkiger zur Sache. Pearl Jam opfern ihr hymnisches, melodramatisches Moment zu Gunsten von ungefilterten, schmutzigen Emotionen. Und es funktioniert. In seiner Härte, in seiner ungezügelten, punkigen Art wirkt Vs. zu keinem Zeitpunkt aufgesetzt. Ansätze von Selbstgefälligkeit werden weggefegt von einem düsteren, herzzereißenden Klang, und dennoch sind noch genug Pearl Jam Trademarks zu erkennen, um auch die Ten-Crowd zufrieden zu stellen. Ja, Vs. hat auch so manche Hymne, so manchen theatralischen Rock-Gestus zu bieten und dennoch ist es deutlich mehr Garage, mehr Rohdiamant als sein Vorgänger. Vielleicht sogar das beste Album der einzigen ikonischen Grunge-Band, die über die 90er hinaus bestehen würde.

The Smashing Pumpkins – Siamese Dream

(Virgin, 1993)

Bei den meisten Alben der damaligen Zeit, bei denen man sich nicht so ganz sicher ist, ob sie nun zum Grunge zu zählen sind, liegt dies an ihrem Blick zurück: Richtung Blues, Richtung Punk, Richtung Folk, Richtung Rock N Roll und Metal… bei den Smashing Pumpkins war das schon immer ein wenig anders. Und nirgendwo ist das so stark zu hören wie im gefeierten Gish-Nachfolger Siamese Dream. Wo andere Grunge-Bands nach einem möglichst rohen, „realen“ Sound suchen, macht Billy Corgan das genaue Gegenteil. Hi-Fi statt Lo-Fi, Transzendenz statt Rücknahme. Das mag nach dem Schlachten der heiligen Kuh des Genres klingen, Siamese Dream fällt aber nie in den leeren, überdimensionierten Stadion-Rock-Pathos zurück, den der Seattler Sound so vehement ablehnte. Stattdessen klingt es wie eine ganz eigenständige Mischung aus Grunge, Punk, Progressive Rock, Symphonic Rock, Shoegaze und Metal. Siamese Dream weist den Weg in eine Transzendierung des Grunge Sound, in eine Form von verspieltem, opulentem Alternative Rock, der sich nach dem Ende des Seattle Sound auch tatsächlich zur dominanten Form des alternativen Rock der 90er Jahre entwickeln sollte. Achja, und bei all der Historie nicht vergessen, was für ein großartiges Album dieses Siamese Dream ist: Laut, wild, übervoll, überwältigend und mitreißend. Der beste Verrat am Grunge, der dem Grunge passieren konnte.

Nirvana – In Utero

(Geffen, 1993)

Kommen wir also zum finalen Studioalbum „In Utero“, das nach zähem Entstehungsprozess – unter anderem die Produktion von Steve Albini sorgte für lang anhaltende Debatten, nicht nur zwischen Band und Label, sondern auch bei den Künstlern untereinander – im Jahr 1993 so etwas wie einen kleinen Schlusspunkt unter das Genre Grunge setzte (auch wenn dieser damals als solcher noch nicht wahrgenommen wurde). In Utero klingt nach Nirvana und doch deutlich anderer als Nevermind. Man könnte es sich leicht machen, das Album als rauen, derben Befreiungsschlag bewerten, als Abkehr von den Pop-Motiven, die auf Nevermind zu finden sind. Das würde dem Album aber nicht 100% gerecht werden. Ja, In Utero ist experimenteller, härter, noisiger als sein Vorgänger, mit Material aus dem Jahr 1990 auch deutlich näher dran an den „klassischen“ Nirvana… da ist aber noch mehr. In Utero ist auch ein kleiner Genre-Bastard, der nicht so ganz weiß, wo er hinwill. Und das hört man ihm auch an. Hinter dem rohen Mixing, hinter den zahllosen Noise-Eskapaden verbirgt sich eine fragende, eine unsichere Seite. Was bin ich? Was geschieht um mich herum? Was ist der Kern meiner Musik? In Utero ist fast so etwas wie ein musikalischer Meta-Kommentar zum Grunge an und für sich. Eine unfreiwillige Auseinandersetzung mit dem Zusammenfließen von Pop und Noise, von Anschmiegen und Abstoßen, in dieser Hinsicht vielleicht sogar ein Zeichen der Überforderung Nirvanas mit ihrem eigenen Erfolg. Und genau in diesem Klang liegt die Genialität dieses ungekünstelten, verlorenen, unsicheren Rock-Brocken. In Utero ist destillierter Grunge, mit allen nervösen Ticks, mit all der Wut und Unsicherheit. Vielleicht weniger ein Punkt, als viel mehr ein Fragezeichen hinter der Entwicklung des Genres der Jahre zuvor. Und damit mehr als nur ein Stück Musikgeschichte.

Bands/Künstler_Innen: Candlebox, Eric's Trip, Love Battery, Nirvana, Pearl Jam, The Fluid, The Smashing Pumpkins, | Genres: Alternative Rock, Grunge, Punkrock, Rock, | Jahrzehnt: 1990er,


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