Die besten Britpop-Alben der 90er Jahre I: Die Frühzeit des Genres

Regionale Rockereignisse die zweite… während die Hamburger Schule – wie so viele regionale Rockbewegungen – dann letzten Endes doch auf den deutschsprachigen Raum begrenzt blieb (und selbst dort immer einen Nischenplatz inne hatte), hat sich der Britpop in den 90er Jahren vom rein englischen Phänomen zu einem weltweiten Hype entwickelt. Bands wie Blur und Oasis wurden nicht nur auch in Amerika rezipiert, sondern irgendwann über den ganzen Globus. Aber nirgendwo anders war der damit zusammenhängende musikalische Stil derart gehyped wie im Vereinigten Königreich. Kein Wunder, gaben diese Bands doch zum ersten Mal seit der Beatlemania wieder das Gefühl, dass Great Britain musikalisch zur weltweiten Speerspitze gehören könnte. Den Patriotismus außen vorgelassen lässt sich festhalten, dass er in der Zeit und in dem Kontext wirklich verflucht viele große britische Rock- und Pop-Alben entstanden sind: Teils sehr weit zurückgreifend bis zu den Beatles, teils am Post Punk orientiert und teils Ideen von Indie Rock, Alternative und Grunge amerikanischer Prägung aufgreifend, haben sich die Britpopper zu Letzterem immer auch als Gegenbewegung begriffen. So orientieren sich Blur, Suede und Paul Weller gerne an der Musik der 60s und 70s, versuchen ihren Sounds aber so weit mit modernen Einflüssen anzureichern, dass er nicht nach bloßer Nostalgie klingt. Das ist auch in der Frühphase – als der Britpop doch vor allem noch ein Nischenphänomen ist – bereits ziemlich gut gelungen. Und auch wenn wir in dieser noch weit vom Hype des Blur/Oasis-Zweikampfes entfernt sind, lohnt es sich, einen Blick auf die besten Alben des Britpop zu werfen… bevor er zum Britpop wurde.

The Real People – The Real People

(Columbia, 1991)

Und wenn ich sage „bevor“, dann meine ich das auch so. The Real People ist eine Band, die ohne jeden Zweifel ihrer Zeit voraus ist. Und nicht nur das, die Liverpooler sind auch Geburtshelfer für Oasis in mehr als nur einer Hinsicht. So ermöglichte es Bandleader Tony Griffith den Gallagher-Brüdern im Studio der Real People ihre erste Demo aufzunehmen und unterstützte sie bei den Recording Sessions nach Leibeskräften. Aber das ist noch mehr im RealPeople/Oasis-Beziehungsgeflecht. Also ganz ehrlich, hört euch mal diese Melodien auf dem selbstbetitelten Debüt von The Real People an, achtet auf die großen Hooklines, die sphärischen wie kräftigen Gitarren, auf die allgemeine Atmosphäre… Ja, wir haben in mehr als nur einem Punkt die direkten Vorbilder von Oasis vor uns. The Real People ist dicht, vollgepackt, laut, geladen und schwelgt dennoch in Harmonien und ohrwurmtauglichen Melodien. In mehr als nur einer Hinsicht die Blaupause für das einige Jahre später veröffentlichte Definitely Maybe. Faszinierend, wie sich musikalische Trends entwickeln. Während Oasis in den kommenden Jahren zu Rockgöttern werden sollten, blieben The Real People immer am Rand, veröffentlichten in den 90ern nur ein weiteres Album und hatten einige moderate Single-Charterfolge. Die Relevanz und Klasse ihres Debüts lässt sich dennoch nicht leugnen.

Paul Weller – Wild Wood

(Go! Discs, 1993)

Paul Weller wird gemeinhin als Godfather des Britpop gefeiert… oder um genau zu sein, als Modfather. Mit seiner Band „The Jam“ sorgte er in den 70er Jahren für die zweite große Welle dieses musikalischen wie modischen Stils: Mod steht für ein spezifisches Selbstverständnis einer Subkultur, die sich einerseits mit der Working Class verbunden fühlt, andererseits ihre Individualität durch einen besonders schicken Modestil betont: Die Modder zeichnen sich durch eine exzessive Lebensweise aus: Partys, Drogen, Kämpfe gegen die Rocker-Subkultur. Ihre Mode ist stilbewusst, mit Suit und Parka. Ihre Einflüsse gehen vom Swing über den Rock N Roll bis zu Soul, Ska und R&B. Die musikalischen Größen ihrer Frühzeit sind Bands wie The Kinks und The Yardbirds, in der zweiten Welle The Chords und die bereits erwähnten The Jam. Klingelts? Jepp, es spricht vieles dafür, den Brit Pop auch als eine Art dritte Welle des Mod zu sehen. Mit seinen Solo-Alben ist Paul Weller in den 90ern ihr alter, weiser Begleiter, outet sich als großer Britpop-Fan und spielt so etwas wie eine adult oriented rock Version des neuen Sounds von der Insel. Wild Wood ist in dieser Schaffensphase sein stärkstes Album: Inspiriert von den Beatles, von einfachem Singer/Songwriter-Rock, aber auch mit Swing, Jazz und sogar amerikanisch inspiriertem Country im Nacken. Wild Wood klingt wie eine entspannte, zurückgelehnte Version des frühen Britpops, vorgetragen von jemandem, der musikalisch eigentlich schon alles wesentliche durchgemacht hat, der sich nicht mehr beweisen muss, aber der Jugend eine Menge mitgeben kann. Vielleicht nicht das definitive Britpop-Album, aber ein verdammt starkes Stück Musik, das essentiell für jede 90er UK-Collection ist.

Morrissey – Your Arsenal

(HMV, 1992)

Kommen wir also zum zweiten großen Godfather des Britpop. Tja, über Morrissey ließe sich viel schreiben. Über seine schillernde wie exzentrische Persönlichkeit. Über seinen Wandel von der Rockikone zum Gossip-Lieferanten, und natürlich auch über seine unangenehme politische Entwicklung im 21. Jahrhundert bis hin zum offenen Flirt mit der extremen Rechten. Lassen wir das alles beiseite und reden über die Musik des einstigen The Smiths Mastermind. In den 90er Jahren ist er Solo unterwegs, und sein bestes Album aus dieser Schaffensphase ist Your Arsenal. Punkt. Deutlich rockiger als seine früheren Werke, deutlich schillernder, mit Anleihen aus Hard Rock und Glam, dadurch aber eben auch verflucht dicht und atmosphärisch packend. Your Arsenal ist ein gewaltiger, tanzbarer Rockrausch mit omnipräsenten düsteren Subtext, mit Eingängigkeit und dieser gewissen „Ach leckt mich doch. Ich bin doch schon größer als Jesus!“ Attitüde. Vor allem aber macht es auch Spaß. Gerade was das musikalische Selbstverständnis betrifft ein nicht zu unterschätzender Stichwortgeber für Oasis und den Larger than Life Rock späterer Jahre.

Blur – Modern Life Is Rubbish

(Food, 1993)

Jetzt ist echt verdammt oft der Name Oasis gefallen. Spoiler: In der Frühzeit des Britpop tauchen die Gallaghers gar nicht auf… und damit auch folgerichtig nicht in dieser Liste. Aber wie wäre es mit der Band, deren Konkurrenz zu Oasis in der Folgezeit stilprägend für das Genre wurde? Modern Life is Rubbish ist bereits das zweite Album von Blur und sollte einen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung der britischen Popmusik haben, selbst wenn dies im Jahr 1993 noch nicht abzusehen war. Blur öffnen sich hier auf möglichst denkbare Weise dem traditionellen Rock von der Insel, umarmen The Kinks wie The Beatles, spielen mit Humor und ironischer Brechung, geben sich die Punk-Energie, nur um sich kurz darauf in großen Ohrwürmern dem Pop zu ergeben. Das muss nicht jedem schmecken, immerhin scheint der Spaß hier oft wichtiger zu sein als die Größe und Stärke der Musik. Modern Life is Rubbish als auf LP gepresste Party ist in vielfacher Hinsicht ein radikaler Gegenentwurf zur damals düsteren und verzweifelten Stimmung in der musikalischen Jugendkultur. Weit weg von Grunge und Teenage Angst, weit weg vom politischen Imperativ des Punk, weit weg von der Maskulinität des 90er Jahre Metals. Man sollte sich von seiner Verspieltheit aber auch nicht täuschen lassen, zwischen jeder fröhlichen Note klingt Zynismus durch, jede Lebensfreude wird auch geschnitten mit einem verzweifelten Lachen, jeder Vitalismus trägt auch immer ein Stück Angriffslust in sich. Modern Life is Rubbish ist das erste große Meisterwerk Blurs (Es sollten noch einige folgen) und ein großes, zeitloses Stück Musik.

Suede – Suede

(Nude, 1993)

Das zweite große Album des Genres in seiner Frühzeit. Und vielleicht sogar dessen bestes Album für einen längeren Zeitraum. Suedes selbstbetiteltes Debüt ist eine faszinierende Mischung aus sexueller Verzweiflung, Lust, verquerer Romantik und einer Menge sublimem und offensichtlichem Sexappeal. Irgendwo vom Post-Punk und Glam kommend spielen Bernard Butler, Brett Anderson, Mat Osman und Simon Gilbert eine unfassbar mitreißende, kraftvolle Mischung aus Bowie und The Smiths, klingen dabei immer ein wenig abgehoben, außerirdisch und gleichermaßen ungeheuer energiegeladen und gefühlvoll. Die Besonderheit dieses Albums liegt in seiner Fantasterei, in seiner betörenden märchenhaften Stimmung. Das Publikum wird hypnotisiert, entführt, mitgerissen und so schnell nicht wieder losgelassen. Die Songs auf diesem Meisterwerk klingen nicht selten wie in Musik transferierter Sex: Heiß, verschwitzt, alles andere vergessen machend und bis zum Ende extrem befriedigend. Suede lassen die machoistische Männlichkeit des Alternative Rock der frühen 90er Jahre weit hinter sich und landen in einem Rausch aus Tönen, Musik und Farben. Fast schon unwirklich und doch zu jeder Zeit präsent.

The Auteurs – New Wave

(Hut, 1993)

Im Gegensatz zu Suede und Blur sollten The Auteurs nie zu den populärsten Vertretern des Britpop gehören, obwohl sie auch seit dessen Anfangstagen auf seiner Bühne standen. Nicht nur ein Jammer, sondern auch schwer nachvollziehbar, ist doch ihr Debüt „New Wave“ trotz aller Düsternis erstaunlich poppig und harmonisch geworden. Das liegt vor allem an den unverschämt mitreißenden Harmonien, die nicht nur von The Smiths und David Bowie inspiriert sind, sondern zusätzlich eine Menge Beatleskes in sich tragen. Die Hooklines sind hymnisch und zugleich verspielt, unter der dunklen Oberfläche scheint sich auch immer ein kleines Augenzwinkern zu befinden. New Wave changiert zwischen Folk, Pop, Psychedelic und den für den Britpop so prägenden New Wave Momenten, ist charmant und gleichzeitig kryptisch, düster und dennoch liebenswert. Unpopular opinion: In ihrem Debüt sind The Auteurs stärker als auf ihren Nachfolgealben. Diese sollten noch ein gutes Stück darker, exzentrischer und bizarrer werden, so charmant und warm wie auf diesem Album sollten die Auteurs indes nie wieder sein.

Denim – Back in Denim

(Boy’s Own Recordings, 1992)

Pop! In der liebenswerten Variante! Und dazu noch voller Leben. Auftritt Denim, die mit ihrem Debüt „Back in Denim“ im Jahr 1992 definitiv Anspruch darauf erheben dürfen, zu den allerersten Britpoppern überhaupt zu gehören. Stellt sich die Frage, ob das überhaupt schon Britpop ist, was hier so punkig, verspielt und lebendig aus den Boxen schallt. Also schauen wir es uns doch genauer an: Überboderndes Selbstvertrauen? Check. Freude an der Rock N Roll Geschichte? Check! Hymnisches, Verspieltes, Elegisches? Mit ein bisschen Ironie versehen? Check, check und check. Denim klingen wie eine Punkband, die von einer Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band überrannt wurde und auf die Theaterbühne geflohen ist; extrem rockig, aber auch entspannt und mit Spaß am Pathos. Bloß nicht hart und minimalistisch, bloß nicht amerikanisch, bloß nicht den Eindruck erweckend, es gäbe keine Zukunft. Back in Denim ist die Partyversion des Britpop, nichtsdestotrotz klarer Britpop, inklusive Fish and Chips und Song for Europe.

Saint Etienne – So Tough

(Heavenly, 1993)

Wenn wir jetzt mal kurz beiseite lassen, dass es sich bei der ganzen Bripop-Bagage um eine ziemliche Sausage Party handelt, was ist eigentlich der Kern dieses Genres, in dem so viele Stile beheimatet sind? Natürlich der Versuch, irgendwie das britische – konkreter, das britisch urbane – Lebensgefühl der frühen 90er Jahre in Musik zu pressen. Keine, ich wiederhole, KEINE andere Band hat das derart konsequent gemacht wie Saint Etienne. Auf ihrem zweiten Album spielen sie eine unverschämt gute Mischung aus Weird Folk, Poprock und elektronischem eklektischem Experiment. Durchzogen von zahllosen Samples und Jazzmomenten darf durchaus die Frage gestellt werden, ob das denn noch Britpop ist, wird dieser sonst doch vor allem von Rock-Gitarren dominiert… und von Männern. „But of course“ muss dann aber auch gleich die anschließende Antwort lauten: Vielleicht ist das sogar Britpop in seiner reinsten Form, mit Betonung des Wortes POP und mit dem kurzen Träumen von einer alternativen Realität, in der genau dieser Sound den großen Hype verursacht und zahllose ähnliche, Stadien füllende Bands nach sich gezogen hat. Mit weniger Sausage Party, weniger Protzerei und mehr Verspieltheit. So tough ist ein großartiges Brit Pop Alben, genau an der Grenze zwischen Tradition und (Post-)Moderne, an der sich der beste Britpop orientieren sollte, mit einer herausragenden Sängerin, viel Dekonstruktion und voller Lebensfreude.

Dodgy – Homegrown

(A&M, 1994)

Jaja… ist schon gut. Zurück zum Rock N Roll, zurück zu den Jungs, und zurück zu den swinging Sixties. Das Trio Dodgy steht wie wohl keine andere Band für die Einflüsse der 60er Jahre im Britpop, fast so als hätten Post Punk und New Wave nie stattgefunden. Homegrown ist das lebendige Statement einer unschuldigen Rock N Roll Zeit, irgendwo zwischen Beatles, Rolling Stones und The Kinks. Dodgy haben sichtlich Spaß daran, ihre zahllosen Vorbilder zu zitieren, zu würdigen und vor allem zu feiern. Inklusive Horn-Sections, psychedelischen Momenten und purer Lebensfreude, ganz ohne Ironie und Sarkasmus. Gerade das zeichnet dieses poprockige Album auf: In einer Zeit, in der auch der Rock von der Insel oft versuchte, sarkastisch, edgy und zynisch zu sein, sind Dodgy schlicht und ergreifend positiv, ja fast schon naiv und simpel, aber gerade dadurch eine wohltuende Abwechslung zu all dem Düsteren, Ironisierten und Dekonstruktivistischen, was man in den Britpop-Zirkeln so findet.

Bands/Künstler_Innen: Blur, Denim, Dodgy, Morrissey, Paul Weller, Saint Etienne, Suede, The Auteurs, The Jam, The Real People, The Smiths, | Genres: Alternative Rock, Art Rock, Britpop, Pop, Rock, | Jahrzehnt: 1990er,


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