Die besten Gothic Metal Alben der 90er Jahre I

Das Genre, das neben dem klassischen Death und dem Doom dem Melodic Death Metal am nächsten stehen dürfte, ist wohl der Gothic Metal, der – mal aus der „Gruftie-Richtung“, mal aus der schweren Metall-Richtung – zu Beginn und Mitte der 90er einen Missing Link zwischen atmosphärischem Dark Rock und tiefen, harten Metal-Sounds generierte. Bevor ich angefangen habe, für die 90er Retrospektiven in meiner musikalischen Vergangenheit zu wühlen, war mir gar nicht bewusst, wie stark ich von den Bands dieses Subgenres geprägt wurde… Gerade habe ich sogar das Gefühl, dass der Gothic Metal für mich eine Art ganz persönlichen Link darstellte: Vom klassischen Metal hin zu Death-, Doom-, Black- und anderen extremen Metal-Spielarten, von denen ich eine Zeit lang nicht genug bekommen konnte. Die meisten der hier genannten Alben habe ich mir als Pimpf wöchentlich in der Bibliothek meines Vertrauens ausgeliehen (die musikalisch erstaunlich gut aufgestellt war), ohne überhaupt zu wissen, in welches Genre sie fallen könnten. Geliebt habe ich sie trotzdem, und sie haben mir so manchen Horizont fernab des damals so populären Grunge, Punk und Alternative Rock eröffnet. In der ersten Fuhre soll es um die Klassiker des Gothic Metal gehen, im zweiten Teil werden wir uns die Bands zu Gemüte führen, die das Genre sukzessive erweiterten und damit unter Beweis stellten, wie flexibel der Gothic Metal der 90er Jahre sein kann.

Paradise Lost – Gothic

(Peaceville, 1991)

Wir steigen dann auch gleich ein mit den Namensgebern und Pionieren des Genres. Ob Paradise Lost mit ihrem Wandel vom Death Metal des Debütwerks Lost Paradise (1990) hin zu atmosphärisch dichten – dennoch harten – Soundscapes tatsächlich das Genre im Alleingang aus dem Boden gestampft haben, sei mal dahin gestellt. Fest steht, Gothic ist auch heute noch ein unglaublich beeindruckender Bastard aus schweren Metal-Geschützen, symphonischer und epischer Prägung sowie stilverliebtem, melancholischem Proto-Gothic-Metal, der geschickt durch Heavy und Dark Rock Interludes aufgebrochen wird. Alles fließt zusammen auf diesem eklektischen Mammutwerk, auf dem sich Paradise Lost ungemein experimentierfeudig und disversifiziert geben, auf dem Progressivität und dissoziative Härte ebenso vorhanden sind wie Weltschmerz und selbstverlorener Pathos. Gothic ist nicht nur ein Meisterwerk seines eigenen Genres, sondern darüber hinaus ein stilprägendes Album des 90er Jahre Metal, das auch heute noch bestens verzücken, beeindrucken und niederwalzen kann.

My Dying Bride – The Angel and the Dark River

(Peaceville, 1995)

Auf der Suche nach den Großen und Größten des Genres kommt man an den im Doom Metal beheimateten My Dying Bride nicht vorbei. Diese spielen auf  The Angel and the Dark River einen ungemein packenden, epischen Sound, der zwischen dunklem, Doom Metal und melodischen, düsterromantischen Brüchen oszilliert. Dabei entwickelt sich das opulente Album (mit bis zu 12Minuten Stücken) zu einer großen, theatralischen Reise, die alles in sich aufsaugende, übergroße Ausmaße annimmt. My Dying Bride sind die langsamen, – sehr langsam – sterbenden Symphoniker des Gothic Metal: Die Augen weit aufgerissen, halb in der Erde vergraben, den Blick gen Himmel gerichtet, vereinen sich Lethargie, Resignation und düstere Sakralität in einem packenden, dunklen Schlund. Musik gewordene Depressionen, alles andere als Licht ins Leben bringend, aber in ihrer dunklen, kompromisslos pessimistischen Haltung, ein Meisterwerk des gitarren-unterlegten Weltschmerzes.

Tiamat – Wildhoney

(Century, 1994)

Zurück zum lebensbejahenden, eklektischen  und hedonistischen Gothic Metal. In diesem fühlen sich Tiamat sichtlich wohl und ergänzen dementsprechend den dunklen Sound ihres Viertwerkes Wildhoney mit progressiven, punkigen und psychedelischen Tönen. Es ist schon unglaublich, wie stilsicher hier klassischer Gothic der 80er Jahre, Doom Metal und 70’s Rock der Marke Pink Floyd, Led Zeppelin oder gar King Crimson zu einem homogenen Sound zusammentreffen. Wildhoney löst sich vollkommen vom Druck der Zeit, schwimmt in atmosphärischen Instrumentalpassagen, findet dichte Schönheit in unglaublich beeindruckenden Melodien, feiert sich selbst in fragilem Ästhetizismus und packt dann doch immer wieder die Schwere seiner gigantischen Riffs aus. Schlicht eines der atmosphärisch stärksten, schönsten und mitreißendsten Alben der 90er Jahre überhaupt.

Anathema – Eternity

(Peaceville, 1996)

Trotz Zugehörigkeit zu den drei großen Gothic-Metal Pionieren vereint bei einem Label, den so genannten Peaceville Three (zusammen mit Paradise Lost und My Dying Bride), gehören Anathema zu den am schwersten zu greifenden Bands des Genres. Reinrassigen Gothic Metal haben die Briten eigentlich nie gespielt. Auf ihrem Weg vom Doom Metal der Anfangszeit hin zum alternativen Progressive und Psychedelic Rock gegen Ende der 90er und zu Beginn der 00er Jahre, haben sie die Nische aber mindestens gestreift, wenn nicht sogar durchschritten. Formvollendet geschieht dies auf ihrem dritten Studioalbum Eternity, das geschickt mit den Dispositionen des Gothic Metal spielt und diese um Einflüsse des 70er Jahre Rock erweitert. Heraus kommt ein faszinierender, leicht verdrogter Trip zwischen erhabener Dunkelheit, schillernder Eleganz und groovenden Hymnen.

Type O Negative – Bloody Kisses

(Roadrunner, 1993)

Type O Negative sind Provokateure, Spaßvögel aber auch die Poser und machoistischen Haudegen des amerikanischen Gothic Metal. Sänger Pete Steele (RIP) vermengt auf brutal ambivalente Weise derbe Metal-Riffs mit testosterongeschwängerter Atmosphäre, mit albernem Gepose und düsterer Nachdenklichkeit. Eine merkwürdige Mischung aus vom Hard Rock beeinflusster Lebensfreude und Hedonismus sowie melancholischer bis depressiver Stimmung ist das Ergebnis. Sex in der Gruft, nur um sich gleich danach selbst zufrieden zu den Leichen zu zu betten. Wie viel davon ernst gemeint ist? Who know. Subtil oder zimperlich ist das jedenfalls alles nicht, rockt dafür aber umso mehr und verbindet perfekt lebensfrohe und lebensmüde Trademarks des Genres.. Egal, Bloody findet in der Dunkelheit immer genug Platz zum Abfeiern, zum tragischen Veitstanzen und wirkt dadurch weitaus vitaler, kraftstrotzender und vor allem lebensbejahender als die meisten anderen Alben des Genres.

Lacuna Coil – In a Reverie

(Century, 1999)

Okay… dann vielleicht doch noch ein ganz kleiner Blick auf die symphonische, vom Power Metal beeinflusste Seite des Gothic Metal. Diese war ähnlich wie Steeles derbe Hard Rock Variante des Genres nie so ganz mein Fall, oft zu kitschig, zu liebreizend, zu pompös und pathetisch. Lacuna Coil bilden dabei allerdings eine angenehme Ausnahme. Trotz symphonischen Ansatzes gelingt es den Italienern schweißtreibend, rockend und gar metallschwer zu bleiben. Auf ihrem Debüt In a Reverie finden sich große, orgiastische Hymnen zwischen Opernpathos und Lebensmüdigkeit, zwischen Metal, sakralen Chorälen, verträumten weiblichen Vocals und eingängigen, nach vorne rockenden Refrains. Das darf dann auch gerne ein bisschen überladener, bombastischer, hollywoodesker sein… und das darf dann auch gerne als Kitsch bezeichnet werden. Aber gerade im Vergleich zu ihren Epigonen und den Opernmetal-Schwärmen der 00er Jahre (*iekk Nightwish) gehören Lacuna Coil zu den Guten, Hörbaren und oft genug auch fesselnden Vertretern der pompösen Seite dunkler Musik.

Bands/Künstler_Innen: Anathema, Lacuna Coil, My Dying Bride, Paradise Lost, Tiamat, Type O Negative, | Genres: Gothic Rock, Metal, | Jahrzehnt: 1990er,


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