Eurodance – Ein Manifest für das Vergessen

Bei uns hieß es immer Kirmesmusik – bzw. Kärwemusik im soliden saarländischen Dialekt. Gerade mal zehn Jahre alt war ich, als SNAPS! Rhythm is a dancer 1992 erschien und dank des Einflusses meines großen Bruders interessierte ich mich eher für die Seattler Rockszene und 80er Jahre Metalhelden als für den glatt polierten Elektrosound, der direkt vor unserer Haustür fabriziert wurde. Aber irgendwie konnte ich mich dem Ganzen dann doch nicht so richtig entziehen. Der Dauerbeschallung durch VIVA und MTV sowie dem nicht zu unterschätzenden Einfluss gleichaltriger Freunde sei Dank. Irgendwann kannte ich sie alle, hatte sie hier und dort bei Freunden gehört, durch Zufall auf Viva gesehen und 1995 geschah dann tatsächlich das Unfassbare: Mit E-Rotics Love Affair kaufte ich mir mein erstes (und bis dato letztes) Album der europäischen Elektrofabrik. Davor hatte ich immerhin die ein oder andere Single besessen und zum Geburtstag den Schlumpfen.Techno zum Geschenk erhalten, aber der Kauf dieses Albums – woran mit Sicherheit auch die albernen Comic-Videoclips und zahllosen lyrischen Schlüpfrigkeiten Schuld waren – bedeutete für mich eine Art Statement, ein kurzes Bekenntnis zu dieser Form von Musik, bevor ich durch die Pubertät und durch Grunge, Punk und Metal endgültig geheilt werden sollte…

… Die Rede ist von Eurodance. Und nachdem der kurzfristige Trend vorüber war, kam es tatsächlich einem Bekenntnis gleich, zu sagen: „Ja, ich habe auch das eine oder andere aus der Sparte gehört!“ Eurodance galt bis heute als Inbegriff grausamer 90er Jahre Musik. Was in den 00er Jahren der Jamba-Techno, in den 80ern der Synthiepop und in den 70ern der Schlager war, das stellte Eurodance für das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts dar: Populärmusik der untersten Schublade, Reißbrettmusik, Idiotenmusik, Ausgeburt der Kulturindustrie, Melodien von der Stange usw. usf. Eurodance war das perfekte Ventil für all die „Früher war alles besser“-Larmoyanz, war Inbegriff für den Niedergang der Musikszene, der europäischen Kultur schlechthin und ohnehin uncool, laut, überdreht und schlicht und ergreifend billig. Kein Wunder, dass die Begriffe Eurodance und Eurotrash irgendwann praktisch synonym gebraucht wurden.

Mit SNAP! (großgeschrieben und mit Ausrufezeichen) fing es damals an. Und es folgte haufenweise mal mehr mal weniger gute Nachahmer, alle irgendwo zwischen Amsterdam und Wien produziert, sehr viele mit einer blonden Sängerin und einem schwarzen Rapper, die die Vocals und das Gesicht für Platten und Poster lieferten, während die wahren Soundtüftler der Projekte im Hintergrund blieben: E-Rotic, 2 Unlimited, Fun Factory, Whigfield, Culture Beat, Dr. Alban, Captain Jack, Mr. President… die Liste der Eurodanceacts in den Jahren 1992 – 1997 ist scheinbar unendlich lang. Die Musik bestand aus simpelsten, dem Techno und House entlehnten 4/4 Takts, aufgebrezelt mit aus dem Pop- oder Klassikbereich geklauten Melodien und das ganze ordentlich hochgepitscht. Auf diesem Fundament alternierten dann gerappte Strophe und gesungener Refrain, während in den zugehörigen Videoclips die Bandprotagonisten merkwürdige Verrenkungen vor einer bunten, flimmernden Leinwand machten. Ausnahmen und Variationen gab es auch, und im Laufe der Zeit wurde das durch SNAP! enggeschnürte Dancekonzept sukzessive aufgeweicht: So bastelten zum Beispiel Rednex frivole Country-Anleihen in ihre Elektrohits, der Brite Scatman John stotterte und rappte sich durch seine Dancegerüste und Mark Oh’ und Scooter erschufen mit Micky Mouse Stimmen und harten, schnellen Beats nebenbei noch den Happy Hardcore. Schließlich schlossen sich mit 20 Fingers und The Outhere Brothers gar Bands von Übersee dem Trend an.

In dieser Zeitspanne, es dürfte ungefähr Mitte der 90er gewesen sein, erblickten zahllose dieser Bands das Licht der Welt. Auf MTV und VIVA dauerrotierten die hyperaktiven ADHS-Dance-Videoclips und jeder der ein bisschen elektronische Musik produzieren konnte, wollte an dem Trend teilhaben. Der Magic Music Maker entwickelte sich zum Software-Bestseller für den PC, das passende Discount-Programm für die entsprechende Discounter-Musik, und selbst gestandene Schlagergrößen wie Falco und Dieter Bohlen, der damals das Projekt Blue System betrieb, orientierten sich an dem erfolgsversprechenden Fließbandsound. Nachdem der Markt dann so richtig übersättigt war, verebbte urplötzlich das Hörerinteresse, die meisten unbekannten, aber auch bekannteren Bands versackten in der Bedeutungslosigkeit und die elektronische Musik war zumindest in Europa lange Zeit mit dem Stigma belastet, nichts als billige und stupide Massenware zu sein.

Das wäre dann auch der Moment, an dem man sagen könnte: Gut, legen wir dieses traurige Kapitel der Popgeschichte Ad Acta. Vergessen wir es, schämen wir uns und kümmern wir uns wieder um tatsächlich gute, wichtige, wertvolle oder einfach nur relevante Musik… Aber nicht so schnell: Nachdem das 80er Revival verklungen ist, klopfen bereits – noch schüchtern – die 90er Jahre an unsere Tür. In diversen Foren beginnen die 80er-Geburtsjahrgänge sich nostalgisch zurück zu erinnern, auf Youtube schießen die bunten und hektischen Videoclips aus dem Boden, die SPEX analysiert die gesellschaftliche und kulturelle Bedeutung des Eurodance für unsere Zeit und auf einigen Revivalpartys gibt es offensichtlich nichts schöneres als DJ Bobo aus den Boxen erklingen zu lassen… hach ja… es war ja doch nicht alles schlecht damals, diese Musik hat uns immerhin geprägt, ohnehin hat sie großen Einfluss auf den coolen Dancehall von heute, und machen nicht auch Indiebands wie die Sparks irgendwie Eurodance nur auf eine krude und originelle Weise?

Stop! Schauen wir den Tatsachen ins Auge. Ein Genre, als dessen Speerspitze ein verquaster, eindimensionaler Dancesong gilt, dessen Lyrics Zeilen wie „I’m as serious as cancer, when I say rhythm is a dancer“ enthalten, ein Genre dessen Aushängeschilder zusammengecastete Bands wie 2 Unlimited sind, kann man nicht guten Gewissens in einen ernsthaften kulturellen Kontext einordnen. Selbst wenn man es Leid ist, die abgedroschene Phrase der „Kulturindustrie“ heranzuziehen, selbst wenn man offen genug ist, um Pop als wichtiges kulturelles Phänomen zu begreifen, selbst wenn man Mash Up, Melodienkonservierung und einfach gestrickte Songs als relevante musikalische Erscheinung betrachtet, selbst wenn man der vermeintlichen Aura von Kunstwerken im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit keine Träne nachweint, selbst dann erscheint die gesamte Eurodance-Riege als katastrophale Ausgeburt des europäischen Musikzirkus. Natürlich gibt es ihn, den gut gemachten Pop, die einfach gestrickte Musik, die beweist, dass Komplexität, Originalität, Eigenartigkeit und Authentizität mitunter überbewertet werden, aber Kindergartensongs wie Aquas „Barbie Girl“ oder pathetische Missclicks wie Magic Affairs „Omen 3“ gehören mit Sicherheit nicht dazu.

Sie sind eher Ausdruck einer gewissen Mentalität der damaligen Musikindustrie, ähnlich wie der Jamba-Techno im neuen Jahrtausend. Sie sind die Musik des Produzentenprekariats: Stumpfsinnige Hymnen, die nicht einfach nur aus Plastik bestehen – was verschmerzbar wäre – sondern sich wie geschmolzener Plastik pestartig jede musikalische Kreativität überziehen und im Keim ersticken. Nicht einfach simple Melodien sondern unangenehmer, klebriger, schlecht riechender konservierter Soundabfall. Songs wie 2 Unlimiteds „No Limit“ klingen wie das Zusammensuchen der Reste von Techno, Pop, House und Disco, in einen Mixer gesteckt und ordentlich umgerührt. Das ist Resteverwertung par Excellence, der der Geruch von Verwesung schon im Entstehen anhaftet. Das ist weder Rebellion, noch die Suche nach einem individuellen Sound sondern nichts anderes als die fleißige Sammlermentalität geiziger und fauler Produzenten.

Lange haben wir uns Kinder und Jugendlichen der 90er vollkommen zurecht für diese Form der Musik geschämt. Jetzt heißt es, stark bleiben. Auch wenn die nostalgischen Dämonen anklopfen. Diese kurzfristige musikalische Entgleisung einer Epoche wurde zurecht verdrängt, vergessen, gegeißelt und verlacht. Jetzt heißt es stark bleiben. Auch wenn die 90er Nostalgie vor der Tür steht, auch wenn man mit Wehmut an das Rumhängen vor Autoscooters, die ersten Knutschereien und das erste Gefummel zurückdenkt, auch wenn man sich mit gewissem Schaudern an die zahllosen, totgeschlagenen Stunden vor VIVA zurückerinnert. Auch wenn die Musik der 90er umfassend erörtert werden will, wenn man versucht zu verstehen, was die Produzenten, Musiker und Hörer damals umtrieb, wenn man den Geist des Eurodance begreifen, das Wesen des Eurotrash erfassen will, sollte man eins doch nicht vergessen: dass es sich dabei schlichtweg um furchtbar scheußliche, abartige Musik handelte, die zurecht zehn Jahre lang verlacht, verhöhnt und mit Missachtung gestraft wurde.

Bands/Künstler_Innen: 2 Unlimited, Captain Jack, Culture Beat, Dr. Alban, E-Rotic, Fun Factory, Mr. President, Rednex, SNAP!, Whigfield, | Genres: Electro, Eurodance, |


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