Die besten Deutschpunk-Alben der 90er Jahre

Naja… irgendwie kommen wir da ja nicht drumherum. Wenn man in Deutschland über Punkrock aus den 90ern schreibt führt kein Weg am Deutschpunk vorbei. Und es handelt sich auch tatsächlich um ein spannendes Genre, denn wohl in keiner anderen musikalischen Nische geht die Schere zwischen Schrott und fantastischen Alben derart auseinander, insbesondere in dieser Dekade. Dabei gehört der Gedanke, schrammelig, dilettantisch und schlodderisch zu sein auch irgendwie dazu, zu diesem lokalen Punk-Subgenre. Und diese Charakteristika sind auch kein Ausschlusskriterium, wenn es um die Suche nach den besten LPs geht. In dieser Bestenliste finden wir dementsprechend viel Musik mit Attitüde, die sich nicht unbedingt durch ihre Virtuosität auszeichnet, sondern vielmehr durch ihren Kampfeswillen und ihre Nonchalance. Punk kann aber – auch in deutscher Variation – subtil, avantgardistisch oder mainstreamtauglich sein. Auch in diesen Ausprägungen werden wir so manchem Album begegnen. Also auf gehts, es gibt viele starke Alben zu betrachten, viel fantastischen Deutschpunk zu feiern.

Slime – Schweineherbst

(Indigo, 1994)

Starten wir doch gleich mal mit einem absoluten Klassiker und der Feststellung: Punk muss fucking politisch sein! Gerade in den frühen 90ern tut das Not, befinden wir uns doch in einem Deutschland, dessen Nachrichten voll sind von rassistischer und ausländerfeindlicher Gewalt, Ausschreitungen, Brandanschlägen und der unheimlichen Formierung einer neuen Rechten aus Ost und West. Stichworte sind Hoyerswerder, Solingen und Mölln. Und jeder, der damals gelebt hat, weiß sofort wovon ich rede. Mit Schweineherbst liefern Slime die kompromisslose Antwort auf diese Entwicklungen. Ihr fünftes Album ist ein harter, düsterer Abgesang auf ein nach rechts driftendes Deutschland, ein Wutschrei gegen Faschismus, totalitäre Ideologie und Ablehnung von allem anderen. Slime scheren sich wenig um Party und Spaß, sie wollen wehtun und ein Statement setzen. Trotz aller potentiellen Preachyness ist Schweinherbst verflucht laut, aggressiv und wohltuend. Mit den besten Lyrics, die die Band je abgeliefert hat, ordentlich nach vorne treibenden Hymnen und verdammt viel Feuer unterm Arsch.

Dritte Wahl – Nimm Drei

(Amöbenklang, 1996)

Wie auch Slime gehören Dritte Wahl zu den Klassikern des 90er Jahre Deutschpunk. Dabei gehen sie weniger filigran vor als so manch andere Band. Filigran ist hier genau genommen gar nichts, dafür ist aber alles umso effektiver. Nimm drei ist eine herausragende Mischung aus düsterem, nahezu apokalyptischem Metal und extrem imperativem Street Punk. Alle Songtitel kleingeschrieben, dafür aber in der Umsetzung mit hartem Ausrufezeichen. Dritte Wahl verbinden die Endzeitstimmung des No Future mit wütender Aufbruchsstimmung und dem unbedingten Willen, wenn sich die Welt schon nicht ein bisschen besser machen lässt, zumindest auf deren Defizite hinzuweisen. Entsprechend schmerzhaft sind die schweren, Hymnen, die sich auf diesem Bastard aus Deutschpunk und Thrash Metal finden lassen. Und dennoch findet sich auch die dem Genre so immanente Eingängigkeit, die Einladung zum Springen und Pogen und schlicht und ergreifend im rausch sein.

Die Ärzte – Die Bestie in Menschengestalt / Planet Punk / 13

(Metronome, 1993, 1995, 1998)

Auf der anderen Seite des deutschen Punk-Spektrums stehen die Ärzte. Nicht erst in den frühen 90ern verschrieen als Fun Punk, oder gar als Deutschrock, der nur wenig mit dem ursprünglichen Punk-Gedanken gemein hat. Dass „Die beste Band der Welt“ hier mit gleich drei Alben vertreten ist, liegt allerdings nicht daran, dass sie in den 90er Jahren gleich drei Meisterwerke aufs Parkett gelegt hat. Ganz im Gegenteil. Für sich genommen gehört eigentlich keine der drei LPs in eine Beste-Alben-der-90er-Liste, allerdings haben die Ärzte in dieser Dekade derart viele Hits als Einzelsongs veröffentlicht, dass es ungerecht wäre, sie hier nicht mit anzuführen. Jedes einzelne dieser Alben hat großartige Songs, die ohne jeden Zweifel zu den besten Pop-Punk-Stücken ihrer Zeit zählen, gleichzeitig aber auch ne Menge Filler und Quatsch. Eigentlich müsste man sich ne eigene Playlist zusammenstellen, in der Stücke wie „Schrei nach Liebe“ (vielleicht die beste mainstreamaffine Anti-Nazihymne der 90er), Rebell (eingängiger geht Wut nicht) oder „Meine Ex(plodierte Freundin“ (Quatsch, aber mit Stil) zusammenkommen. Oder man greift gleich zur Best-Of-Compilation „Das Beste von kurz nach früher bis jetze“, die wirklich voller Hits ist. Fest steht jedenfalls, ob es einem gefällt oder nicht, die Ärzte sind Teil der deutschen Punk-Geschichte, und in ihrem Talent eingängige, poppige und dennoch arschtretende Nummern rauszuhauen, wahrscheinlich einmalig in diesem Land.

Hass – Gebt der Meute, was sie braucht

(Hass Produktion (Broken Silence), 1990)

Noch so ein Punk-Urgestein: Die Spuren von Hass führen zurück bis in die späten 70er Jahre, was sie in den frühen 90ern mal praktisch zu Opas des Genres macht. Und obwohl sie immer stolz auf ihre Unabhängigkeit waren, ist ihre Musik – in ihren besten Momenten – gar nicht so weit weg von den partytauglichen Hymnen der Ärzte. Das liegt daran, dass Hass einfach unfassbar gut darin sind, auf den Punkt zu rocken und dabei durch und durch mitsummtaugliche Songs zu schreiben. Jedes einzelne Stück auf „Gebt der Meute, was sie braucht“ ist ein potentieller Ohrwurm, ist ein potentieller Hit. Die Hooklines rocken und bleiben sofort hängen, die Melodien sind einfach, ohne nervig zu sein, und es bringt einfach mal Spaß, zu der Musik wild rumzuhüpfen und zu pogen. Anyway, was bei Hass allerdings auch passt, sind die Texte. Und die sind trotz allem Pogo-Spaß höchstpolitisch, ebenfalls auf den Punkt und in ihrer Einfachheit ebenso mitreißend wie eingängig. Die perfekte Verbrüderung von Politik und Party.

…But alive – Für uns nicht

(Weird System, 1993)

Mehr als nur ein Gegenentwurf zum Fun Punk der Ärzte und zum politischen Pogo-Party von Hass sind die Hamburger von …But Alive. Gegründet 1991 stehen sie für eine neue Richtung, die Anfang der 90er Jahre nicht nur der Punk sondern die deutsche Rockmusik im Allgemeinen anschlug. Die Musik ist nachdenklicher geworden, distanziert sich deutlich vom Neue Deutsche Welle und Post Punk beeinflussten Deutschpunk des vorherigen Jahrzehnts, will aber auch gleichzeitig nicht back to the roots und zurück auf die Straße. Bei …But alive finden wir das, was später mit mehr Pop, mehr Indie (und noch ein bisschen mehr Uni) zur Hamburger Schule werden sollte. Kein Zufall, dass hier dann auch Markus Wiebusch, Frontmann der später in dieser Richtung sehr erfolgreichen Kettcar, am Mikrofon steht. Auch wenn „Für uns nicht“ noch ein gutes Stück entfernt ist von dem, was Bands wie Tocotronic oder die goldenen Zitronen aus Pop, Indie, Punk und Alternative zusammenrühren sollten, weist es schon den Weg, nur eben noch fest verankert im Punk-Genre: Clevere Texte, schrammelnde Gitarren, die richtige Attitüde und bereits ein Gefühl von einem Mehr, das gegen Mitte der 90er Jahre zum vollen Ausbruch kommen sollte.

S.I.K. – Keine Frage

(Nix-Gut Records, 1998)

Raus aus den Unisälen, zurück zur Straße und zu einer Genregröße, die enormen Einfluss auf den traditionell räudigen Deutschpunk der Dekade haben sollten. Jürgen und Andy Kamm sind nämlich nicht nur Masterminds der Band S.I.K. sondern ebenso die Gründer des Labels Nix Gut Records, das ab Mitte der 90er Jahre die düsternden Deutschpunk-Anhänger mit einer Menge Stoff versorgen sollten. S.I.K. und Nix-Gut sind in dieser Zeit ohneeinander nicht denkbar, spielt doch die Band hier genau den Punk-Stil, den sie sich für ihr Label vorstellt: Hart und dreckig nach vorne, kompromisslos politisch, aber ohne akademischen Anstrich. Musik vom Punkvolk für das Punkvolk; geerdet, roh, edgy und weit weg von dem, was man auf großen Labels hören darf. Ohne jeden Zweifel sind in diesem Mindset auch ne Menge schwacher und nerviger Deutschpunk-Alben entstanden, aber eben auch ein paar kleine verlodderte Meisterwerke. „Keine Frage“ aus dem Jahr 1998 gehört wohl mit zum besten, was unter dem Nix Gut Banner veröffentlicht wurde: Hässlich, direkt, mitten in die Fresse und dennoch verflucht eingängig. Schade, das Nix-Gut sich vor etwas mehr als zehn Jahren in die komplett falsche Richtung entwickelt hat und mittlerweile vor allem als Haus- und Hoflabel der Band Frei.Wild bekannt ist, was wiederum dazu führte, dass zahllose Bands dem Label den Rücken kehrten.

Der dicke Polizist – Es geschah am hellixten Tag

(Nix-Gut Records, 1998)

Die beste Veröffentlichung unter Nix-Gut stammt aber nicht von S.I.K. sondern von den gegen Mitte der 90er Jahre praktisch aus dem Nichts auftauchenden „Der dicke Polizist“. Keine andere Band hat in den 90ern derart gekonnt ernste, nachdenkliche Texte mit Pathos und Punk-Härte gekreuzt wie Matthias Schwickert und seine Gefährten. Lasst euch nicht vom Namen der Band täuschen, Der dicke Polizist spielen weder 80er beeinflussten Fun Punk noch alberne Dumpf-Protestsongs. Stattdessen gibt es hier ungewöhnlich kluge Punkhymnen, die sich Zeit nehmen für ihre Gedanken, die keine Angst vor großen Emotionen und ungefilterter Wut haben, aber nie in Kitsch abdriften. Es geschah am hellixten Tag ist viel viel reifer, als der alberne Titel vermuten lässt, die Songs sprühen nur so vor Energie, und die Themen und Akzente, die gesetzt werden, sind bei aller Direktheit nie nervtötend oder predigend. Ein unfassbar starkes Stück Deutschpunk aus dem Untergrund, das nicht vergessen werden sollte.

Die Toten Hosen – Opium fürs Volk

(Virgin, 1996)

Ja, auch an diesem Mainstream-Schwergewicht kommt man nicht vorbei, wenn man über die besten deutschen Punkalben der 90er Jahre redet. Ob das noch Punk geschweige denn Deutschpunk ist… ja darüber kann man hier genau so streiten wie bei den Ärzten. Im Gegensatz zu diesen sind die Toten Hosen immer dann am besten, wenn sie weniger auf Party machen und sich mehr in nachdenklichere Gefilde wagen. Am besten gelungen (vielleicht sogar in ihrer gesamten Karriere) ist ihnen dies auf dem Spätwerk Opium fürs Volk, das zwar nicht ganz als Konzeptalbum durchgeht, mit den Themen Religiosität und Spiritualität doch einen relativ engen Rahmen besitzt. Zwar sind auch hier ein paar Schunkelsongs vorhanden, aber dominiert wird die Scheibe doch von gewlatigen, pathetischen Deutschrock-Hymnen, die ebenso eingängig wie schwergewichtig daherkommen. Ernster klangen die Hosen wohl nie, und dennoch gelingt es ihnen, dem Kitsch zu entgehen. Stattdessen gibt es große Songs mit vielen Pop- und Metal-Einflüssen, die immer knapp am Punk vorbeischrammen, diesen aber oft genug in die Arme nehmen, so dass sie es verdient haben, genau in dieser Liste gewürdigt zu werden.

Terrorgruppe – Melodien Für Milliarden

(Teenage Rebel Records, 1996)

Und hier haben wir dann die dritte große – auch im Mainstream beheimatete – Punkband aus deutschen Landen. Immerhin durften die Terrorgruppe bereits in den 90ern mit NOFX, den Toten Hosen und den Ärzten auf Tour gehen. Mit letzteren veröffentlichten sie im Jahr 1996 gar eine Split EP mit dem passenden Titel Rockgiganten vs. Straßenköter. Wie Straßenköter klingen Terrorgruppe auf ihrer 96er EP jedoch nicht, stattdessen haben sie ihren traditionellen Punksound mit einer Menge Pop, Ska und Indie angereichert. Und so hüpfen die Melodien für Milliarden (wirklich ein passender Titel) munter zwischen Fun Punk, MTV Flirts, Melodycore und melodischem Deutschpunk, ohne sich konsequent für eine Seite zu entscheiden. Die Inkonsequenz ist es, die dieses Album so stark macht (während Vorgänger und Nachfolger auf die ein oder andere Weise zu sehr in eine Richtung tendieren) und es der Terrorgruppe erlaubt, die eingängigsten, unterhaltsamsten und schlicht besten Songs ihrer Schaffenslaufbahn zusammen zu stecken.

Normahl – Blumen im Müll

(7hard, 1991)

Bei all den melodischen Hitfabriken der 90er Jahre, bei all den Ärzten, Terrorgruppen und Toten Hosen könnte man Gefahr laufen, die Urväter des melodischen, eingängigen Punks zu vergessen. Das darf auf keinen Fall passieren! Normahl sind seit Anfang der 80er Jahre in Deutschland unterwegs und haben sich im Laufe ihrer Karriere peu à peu dem fröhlichen und ohrwurmtauglichen Fun Punk angenähert. Gerade Anfang der 90er Jahre klingen die Süddeutschen Vertreter des Genres verdammt ähnlich wie ihre (bekannteren) Kollegen aus Düsseldorf. Aber irgendwie waren Normahl gerade auch in dieser Zeit fast so etwas wie die besseren Toten Hosen: Inklusive dem Hang zum Hymnenhaften, zum Prophetischen und Missionarischem, inklusive dem Hang zum Schunkeln und Mitwippen. Das mag Punk-Puristen (und Fans der ganz frühen Normahl) nicht unbedingt schmecken, aber ohne jeden Zweifel findet hier die beste Verbrüderung von Punk, harten Rockklängen und Schlager (Jepp!) statt, die die 90er gesehen haben. Und dennoch haben Normahl genug Zeit für die wesentliche politische Botschaft: Im Kampf gegen den aufkeimenden Rechtsradikalismus gab es 1992 Kollaborationen mit Größen der deutschen Pop-Landschaft wie Pur oder den Fantastischen Vier, sowie Auftritte im TV und wohlwollende Erwähnungen im Stern. Normahl sind vielleicht die unbekannteste, einflussreichste Fun Punk Band der 80er und frühen 90er Jahre, und „Blumen im Müll“ ist ein großes Deutschpunk-Juwel, das definitiv mehr Aufmerksamkeit verdient hat.

WIZO – UUAARRGH!

(JPC, 1994)

WIZO gehören tendenziell zu den bekannteren Deutschpunk-Bands, nicht nur in der Szene sondern auch über diese hinaus. 1993 schafften sie es sogar mit ihrem Ace of Base Cover „All that she wants“ bis nach MTV und ihr vermutlich bestes Album UUAARRGH! wurde in den USA immerhin vom ikonischen Melodycore-Label Fat Wreck Chords vertrieben. Genau da passen sie auch hin. Nicht nur der hymnischen Spaß teilen sie mit den US-Geschwistern, sondern auch die Freude an wohl temperierter Melancholie, die in ihre poppigen Punkkracher einfließen, inklusive Chorälen, vielen „Yeahs!“ und „Whoas!“. Selbst einige – etwas ungelenke – englischsprachige Stücke finden sich auf UUAARRGH!, ohne dass diese allzu sehr das Gesamtkonzept sprengen würden. Damit sind WIZO vielleicht wirklich die amerikanischste, die kalifornischste unter den deutschen Punk-Bands. Wer einen Sound wie NOFX oder Bad Religion liebt und nach deutschen Texten düsrstet, ist hier genau richtig.

Emils – Licht am Horizont

(We Bite Records, 1993)

Nicht bloß als Obskurität sollen hier zum Abschluss die Emils nicht unerwähnt bleiben. Während der Deutschpunk in den 90ern von vielem beeinflusst war, was aus Pop, Deutschrock und Melodycore kam, sind die Emils mit ihrem Sound irgendwie anders. Die Referenzen, die sich hier finden lassen, liegen im 80er Jahre Hardcore, im Thrash und Death Metal und mitunter auch in derbem Crossover. Entsprechend hart geht es zur Sache, die Riffs sind schwerer, als man es im Punk Rock gewohnt ist, hin und wieder darf es sogar ein metallenes Gitarrensolo geben. Dadurch klingen Emil bisweilen deutlich mehr nach Straße, nach hartem Kampf als die Konkurrenz. Dann wiederum grätscht so etwas wie eine absurde Reinterpretation von Queen in den Morast. Licht am Horizont ist anders als viele Deutschpunk-LPs der Zeit, weil es nicht nur eklektischer sondern vor allem auch zerrissener und zerfaserter daherkommt, weil es wild zwischen den Stilen und Stilmitteln springt und dennoch konsequent hart und wild bleibt. Die Emils klingen kampferprobt wie kampferfahren, kreuzen Politisches mit Härte und progressiven Tönen und sind damit wahrscheinlich die Alternativsten unter den Deutschpunks.

Bands/Künstler_Innen: ...But alive, Der dicke Polizist, Die Ärzte, Die Toten Hosen, Dritte Wahl, Emils, Hass, Normahl, S.I.K., Slime, Terrorgruppe, WIZO, | Genres: Punkrock, Rock, | Jahrzehnt: 1990er,


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