Die besten Britpop-Alben der 90er Jahre IV: Niedergang, Evolution und Post-Britpop

Die 90er waren schon so ein bisschen die Dekade für kurzzeitige Rockphänomene. Ähnlich wie der Grunge hat es der Britpop nur mit viel Good Will über die Lebensdauer von fünf Jahren geschafft. 1997 scheint schon irgendwie Schluss zu sein, und abgesehen von ein paar hartnäckigen Genrevertretern verschwinden die meisten Bands entweder in der Bedeutungslosigkeit oder veröffentlichen derart katastrophale Alben, dass sie als Vorzeichen einer wahren Britpop-Apokalypse gelesen werden können. Das Ende der Ära ist in dem Fall aber auch – ähnlich wie das Ende des Grunge – gezeichnet von einer extrem spannenden Weiterentwicklung der Musik, die zuvor Top of the Pops und die UK Charts dominiert hat. Es gibt Experimentelles, Avantgardistisches, Bizarres und Ungewöhnliches. Bands wie Radiohead oder Blur spielen mit allerlei neuen Genreeinflüssen, entdecken Prog, Krautrock und elektronische Musik, um den Wechsel der 90er Jahre zu den 2000ern vorzubereiten. Und dann gibt es da noch die Late Bloomer. Bands, die eindeutig vom Britpop inspiriert sind, kreieren ihre ganz eigene Variante von Indie und Alternative Rock, der sich vor der Historie verneigt und gleichzeitig neue Töne einschlägt. Manche nennen es Post-Britpop, manche nennen es gar Second Wave of Britpop, aber letzten Endes beschließt diese kurze Periode das Jahrzehnt großer britischer Popmusik. Die 2000er klopfen an und es wird nie mehr so sein, wie es mal war.

Radiohead – OK Computer

(Parlophone, 1997)

Sofern man das noch zum Britpop zählen darf, haben wir hier wohl mein liebstes Britpop-Album der 90er Jahre vor uns. Auf OK Computer reichen Radiohead ihren Alternative Rock und Britpop-Sound mit allerhand elektronischen Spielereien an, lassen sich von den schrägsten Songs der Beatles beeinflussen und spielen mit Krautrock und traditionellem Prog der Marke King Crimson. Folgerichtig habe ich das Album schon bei den besten Progressive Rock Würfen der 90er Jahre gewürdigt, wo es – hands down – vielleicht auch mehr hingehört als zu den Britpop-Phänomenen. Wie schon zuvor gesagt waren Radiohead schon immer die gefeierten Außenseiter des Genres. Was sie auf OK Computer abliefern, klingt aber mitunter derart abgehoben, ungewöhnlich und schlicht außerirdisch, dass sie wirklich fast aus einer anderen Galaxie zu kommen scheinen als die anderen großen Bands der Insel. Und das ist erst der Beginn von etwas noch viel größerem. Mit dem 2000er Meisterwerk Kid A lassen sie schließlich alle Fesseln fallen und allen Genregrenzen hinter sich und veröffentlichen einen Meilenstein des neuen Millenniums, der nicht nur einfach mit den 90ern abschließt, sondern auch weit voraus in eine postrockige Artpop-Zukunft weist. Auf OK Computer dürfen sie aber noch einmal tief im Britpop-Wasser warten, und sei es nur, um darin tiefe Wellen zu schlagen.

Muse – Showbiz

(Taste, 1999)

Eigentlich ist es ja gemein an dieser Stelle nochmal zu erwähnen, dass es sich bei Muse um Radiohead-Exegeten handelt… vor allem weil es einfach nicht stimmt. Seit ihrem Debütalbum Showbiz hängt Muse der Ruf an, die Oxforder zu imitieren, obwohl sie von Beginn auch irgendwie ihr eigenes Ding gemacht haben. Ja, Showbiz besitzt schon diese Mischung aus Opulenz und Dekonstruktion, aus Pop-Appeal, Psychedelic und Avantgarde, und doch hat es genug eigenes Momentum, um mehr zu sein als bloßes Plagiat. Muse greifen tief hinein in den härteren Rockfundus, lassen sich nicht nur von den 60ern und 70ern inspirieren, sondern auch von Hard Rock und Metal der 80er Jahre, nutzen Glam und Alternative, um damit ganz weit hinaus in den Weltraum zu fliegen. Das Ergebnis klingt deutlich weniger versnobbt als bei vielen anderen britischen Bands, egal ob zur Britpop-Phase oder danach. Muse haben keine Angst vor Stadionrock der ganz alten Schule, mit viel Pomp, in die Höhe gestreckten Armen und ganz nah am Volk. Und das alles ohne Naserümpfen und – zumindest auf dem Debüt – ohne den Pathos vollkommen auf das eigene Ego zu beziehen. Im Gegensatz zu vielen anderen Alternative Rock Versuchen der ausgehenden 90er ist Showbiz extrem gut gealtert, klingt vielleicht nicht mehr so frisch wie annodazumal, macht aber – und das ist das wichtigste – immer noch verflucht viel Spaß

Perfume – One

(Big Star, 1997)

Wem Radiohead zu zynisch und deprimierend sind, der sollte der vergessenen Perle Perfume eine Chance geben. Auf gerade mal zwei Alben haben es die Leicester geschafft, ihr Abschlusswerk „One“ ist aber wirklich ein Juwel britischer Rockmusik der damaligen Zeit: Im Spiel mit Psychedelic, Artrock und Experimental verlieren Perfume nie den Song aus den Augen, umgarnen ihr Publikum mit mal zuckersüßen mal bittersüßen Melodien und finden immer die richtigen Augenblicke, die Romantik aufzubrechen zu Gunsten von spannenden Geräuschexperimenten, die in andere Sphären abheben. Und doch ist One verflucht lebensbejahend. Vielleicht nicht unbedingt in hedonistischer Hinsicht, sondern viel mehr in der good old fashioned „Life is beautiful“-Melancholie. So stellen Perfume ein faszinierendes Bindeglied zwischen Suede und Verve auf der einen und Coldplay auf der anderen Seite dar, wohlgemerkt gut drei Jahre bevor Coldplay die Post-Britpop-Bühne betreten sollten. One mag mittlerweile vergessen sein, mit seiner verspielten Liebenswertigkeit und seinem exquisiten Charme hat es aber einen Platz im Herzen eines jeden Britpop-Hörer verdient, insbesondere von denen die sich nochmal davon überzeugen wollen, dass diese Art Musik auch 1997 noch lange nicht tot ist.

Pulp – This is Hardcore

(Island, 1998)

Ja, auch als Nicht-Pulp-Fan muss ich zugeben, das beeindruckendste Statement zum Überleben des Britpop aus dieser Zeit kommt von Pulp. Während andere Bands im Größenwahn untergehen oder sich neuen Genres zuwenden, veröffentlichen Jarvis Cocker und seine Mannen mit „This is Hardcore“ noch einmal ein absolutes und definitives Britpop-Konzeptalbum, das all das in sich versammelt, was wir an diesem Genre so schätzen. Hier finden wir einfach alles: Introspektiven Chamber Pop, melancholische Balladen, überbordende Hymnen und Epen, das alles irgendwo zwischen alternativem Rock, Post Punk und unabhängigem Pop verortet. This is Hardcore ist nicht ganz so pittoresk und exquisit wie sein Vorgänger „Different Class“, trägt in sich allerdings eine erstaunliche Schwere und Ernsthaftigkeit, gerade so, als sei der Britpop Pulp’scher Prägung gereift wie guter Wein, gerade so, als sähe man das Ende einer Ära und würde sich mit Kraft dagegen auflehnen, während die Resignation allerdings bereits als Option wahrgenommen wird. Daraus entsteht eine ganz eigentümliche Atmosphäre zwischen vitalistischen, bunten Farben und einem nachdenklichen Grau in Grau; ambitioniert darf es sein, aber die Selbstreflexion soll dabei nicht verloren gehen. Ein beeindruckendes Genrespätwerk, zu einer Zeit als das Genre eigentlich schon vorbei ist.

The Charlatans – Tellin‘ Stories

(Beggars Banquet, 1997)

Falls es noch nicht so ganz herausgekommen ist. Oasis haben 1997 voll verkackt. Komplett in den eigenen Egos und selbstgefälligen Streitereien verloren. Und mit „Be here now“ ein Album veröffentlicht, das als überladener, selbstverliebter Kokainrausch von einem Album in die Geschichte eingegangen ist. Dafür haben die Charlatans mit ihren fünften Album wahrscheinlich genau das Album veröffentlicht, das man den Gallagher-Brüdern zu diesem Zeitpunkt gewünscht hätte. „Tellin‘ Stories“ klingt schon verflucht nach Oasis minus Narzissmus, etwas was im Jahre 1997 mehr als Not tut. Große Rockhymnen, die auch gerne mal auf dicke Hose machen, dabei aber nie so toxisch überfüllt klingen wie die großen Vorbilder. Ohnehin sind die Charlatans wirklich gut darin, sich nicht an ein Genre zu klammern und zugleich trotzdem rund und geschlossen zu klingen. Der Eklektizismus ist hier niemals Selbstzweck, stattdessen ordnet sich alles den epischen Big Band Vibes unter, alles dient der Hymne, dem großen Einzelstück. Tellin‘ Stories ist ein großes Gesamtwerk, das es nicht nötig hat, seine Größe ständig überzubetonen, ein Werk, das einfach sein darf und dadurch zu sehr viel mehr wird.

Kennickie – At the Club

(EMIdisc, 1997)

Die einen suchen ihr Heil im Pomp, die anderen im Experiment… und wieder andere landen beim Punk ganz klassischer Schule, nur um diesen dann wiederum einmal durch den Pop-Fleischwolf zu drehen. Auf ihrem Erstling „At the Club“ spielen die Sunderlanderinnen Kennickie eine großartige Mischung aus arschtretendem Riot Grrrl Punk der Marke L7, lebenslustigem Pop-Punk der Marke Blink-182 und überborderndem Rock der Marke Great Britain. Das Ergebnis schreit nicht nur Spaß sondern ist auch der perfekte Gegenentwurf zur damaligen Pop-Sensation „Spice Girls“. Das female Empowerment, Girl Power Moment kauft man Kennickie nämlich jederzeit ab, nur um kurz darauf festzustellen, wie mitreißend diese einfachen, eingängigen und dennoch jderzeit rockenden Songs auf „At the Club“ sind. Wenn dann irgendwann auch noch Bläser und postpunkige Rhythmen in das Poppunk Power Pop Gewusel reinhauen, ist man vollends im Britpop-Himmel der Marke Ash und (frühe) Blur gelandet. Ein großartiges Album, das mit „Get in“ (1998) leider nur einen Nachfolger erhalten hat.

Cornershop – When I Was Born for the 7th Time

(Wiiija, 1997)

Manche suchen ihr Heil im Pomp, manche im Experiment, manche im Punk… und wieder andere lehnen sich einfach ganz entspannt zurück und lassen die Welt untergehen, während sie selbst es vor allem gemütlich haben. Cornershop verzichten fast vollkommen auf den pittoresken Glanz, den andere Britpop-Bands wie ein Schild vor sich hertragen. Stattdessen spielen sie unglaublich relaxten, verspielten Poprock, der Dank seiner Raga-Momente, Dank seiner sommerlichen Rhythmen, immer mit einem gewissen Schulterzucken und Augenzwinkern daherzukommen scheint. In dieser Grundatmosphäre lässt sich natürlich perfekt jammen, und Cornershop machen reichlich davon Gebrauch, eingängige Popstücke durch extreme Verspieltheit auszudehnen, zu verschleppen und immer weiter zu tragen. Bei all der versuchten Größe rechts und links tut es so unglaublich gut, einfach mal entspannte Freude, Albernheit und vor allem Song vor sich zu haben. „When I Was Born for the 7th Time“ ist ein wundervoller Ort, an dem es sich bestens ausruhen lässt, während der Pop weit weg nach irgendwo anders zieht.

David Devant And His Spirit Wife – Work, Lovelife, Miscellaneous

(Kindness Recordings, 1997)

Manche suchen ihr Heil im… jaja, ist ja schon gut. „David Devant & His Spirit Wife“ suchen ihr Heil nicht nur in einem genialen Bandnamen (benannt nach einem großen britischen Magier), sondern auch in einer Art von Pomp und Opulenz, die vor allem auf den Theaterbühnen dieser Welt zu finden ist. Sie klingen, als würde David Bowie höchstpersönlich in einem Broadwaymusical auftreten, das Ziggy Stardust für ein Millionenpublikum aufbereiten will. Work, Lovelife, Miscellaneous steckt voller klassischer Rock N Roll Momente – nicht selten gar an Elvis erinnernd – und vermischt diese mit Glam Rock der alten Schule und vorsichtig eingewobenem Post Punk. Das Ergebnis ist ein schillerndes, funkelndes und leuchtendes Musikerlebnis, das ein wenig Las Vegas Flair, ein wenig Big Showbusiness in den Indie Rock Ring wirft, ohne jemals zu sehr nach Anbiederung an die Charts zu klingen.

Blur – Blur

(Parlophone, 1997)

Während andere noch nach ihrem Heil suchen, haben Blur es 1997 gefunden… und zwar sowas von! Ihr selbstbetiteltes Album ist eine hintergründige Abrechnung mit dem Britpop und vor allem dessen mitunter dogmatischem Patriotismus. Die Songstrukturen, die Energie, das Gesamtbild… einfach alles schielt ihr deutlich Richtung amerikanische Indie Szene. Damit sei aber nicht gesagt, dass Blur ihre Verspieltheit und postmoderne Dekonstruktionsfreude aufgeben. Ganz im Gegenteil. Ihr selbstbetiteltes Album beinhaltet immer beide Seiten: Referenz und Verbeugung, aber auch Hinterfragung und sogar Veralberung. So spielen sie die derbe Karikatur eines Grungesongs, nur um damit eines der großartigsten tanzbaren Popmetal-Stücke überhaupt zu veröffentlichen, tragen den Swing zu Grabe, nur um während der Beerdigung all das Tolle an ihm zu besingen, und wandeln auf LoFi-Pfaden, nur um diese mit extremem Krach und Überproduktion zu überrennen. Blur ist ein Album der Gegensätze und der Gemeinsamkeiten, der Konfrontation und der Harmonie, und damit ein ganz großer Pop-Meilenstein, der vollkommen unabhängig von der Schublade Britpop weiterexistieren und begeistern darf.

Blur – 13

(Parlophone, 1999)

Und dann besitzen Damon Albarn, Graham Coxon und Co. doch tatsächlich die Dreistigkeit, unmittelbar nach diesem Meisterwerk noch einen ebenso meisterhaften Nachschlag rauszuhauen. Das, was Oasis Mitte der 90er gelungen ist (und sie womöglich zu den Gewinnern des Battle of the Bands machte), gelingt Blur kurz vor der Jahrtausendwende. 13 geht den Weg, den sein selbstbetitelter Vorgänger eingeschlagen hat, konsequent weiter. Auch hier gibt es wieder eine wüste Mischung aus britischen und amerikanischen Sounds: Inklusive Gospel, Industrial Rock, Postrock und Bubblegum Pop. 13 ist ein Rock N Roll Opus im besten Sinne des Wortes, ein wahrer Kraftakt aus Liebe zur Musik, Liebe zum Leben und Liebe zum Experiment, mit einem Blick auf alles, was die Gefühlswelt hergibt. Und wie bei Oasis ein paar Jahre zuvor scheint die Frage unmöglich zu beantworten, welches der beiden Alben nun das Stärkere ist. Hörbar sind sie beide bis zum heutigen Tag, und sie zementieren auf eindrucksvolle Weise die Relevanz von Blur weit über die Grenzen des Britpop-Trends hinaus.

Manic Street Preachers – This Is My Truth Tell Me Yours

(Virgin, 1998)

Gefühlt waren die Manic Street Preachers schon immer da (und werden gefühlt wohl auch immer da sein). Sie waren vielleicht immer ein bisschen auch der zynische – und weniger erfolgreiche – Zwillingsbruder von U2. Definitiv zu politisch, zu punkig und zu zeitlos, um in dem ganzen Britpop-Hype Mitte der 90er nach oben gespült zu werden, aber derart konsistent, was Qualität betrifft, dass sie dann doch retrospektiv gerne in die Bewegung reingezogen werden. Mit „This Is My Truth Tell Me Yours“ veröffentlichen die Waliser 1998 – nach dem Ende des Britpop-Crazes – ihr wohl eingängigstes und harmonischstes Album, das auch bis zum heutigen Tag im Vereinigten Königreich ihr erfolgreichster Output ist. Es steckt voller wunderbarer, verführerischer Harmonien, ist deutlich pathetischer, schillernder und opulenter als ihre früheren LPs und damit der perfekte Wegbereiter für den Post-Britpop, der kurz darauf das Licht der Welt erblicken wird. Aber für einen kurzen Moment in der britischen Musikgeschichte steht die Zeit still und die Preachers sind ganz vorne, jedem Trend widerstehend, mit der Reifung ihren ganz eigenen schwelgenden Sound kreierend. „This Is My Truth Tell Me Yours“ fühlt sich in der Tat an wie ein Stillstand der Zeit, ein Moment puren Glücks, ein Sieg im Kampf gegen die Verzweiflung und Resignation. Ein Aufbäumen gegen den Zeitgeist und ein Festnageln des eigenen Gefühls für die Ewigkeit. Die Manic Street Preachers sind nicht zu spät gekommen, sie waren einfach schon immer da, und jetzt wo sich der Nebel des Britpops lichtet, werden sie zum ersten Mal richtig gehört.

Stereophonics – Performance and Cocktails

(V2, 1999)

Und damit wären wir dann auch beim Post-Britpop (meinetwegen auch der zweiten Welle) gelandet, der sich über die Jahrtausendgrenze hinaus bewegt und das Erbe des Britpop in einer epischeren, vielleicht auch gewaltigeren, weniger ironischen Variante in die Zukunft trägt. Vielleicht sind die Stereophonics mit die Ersten, die diesem Label zugeordnet werden können. „Performance and Cocktails“ trägt viele Momente von Oasis in sich, tritt aber deutlich verzweifelter rockend auf. Die dicken Hosen werden hier nicht angezogen, stattdessen werden Momente der Angst und des Zorns aus dem amerikanischen Alternative Rock entliehen. Die Party ist eigentlich vorbei, wird aber verzweifelt am Leben gehalten und zugleich spüren schon alle den Kater, der am nächsten Tag folgen wird. Entsprechend unentschlossen pendelt Stereophonics zweites Album zwischen dem letzten hymnischen Heraufbeschwören einer guten Zeit und dem resignierten Statement, dass die gute Zeit längst vorbei ist. Größe verliert sich in Melancholie, Spaß wechselt nahtlos in Verzweiflung über und schlägt dennoch weiter wild um sich. Wir leben vielleicht auch so etwas wie den Todeskampf des Rock N Rolls. Er ist definitiv nicht tot, mobilisiert aber alle seine Kräfte, gefangen in ständiger Agonie.

Travis – The Man Who

(Independiente, 1999)

Und so bewegt sich der britische Pop dann weiter ins neue Jahrtausend. Travis lassen den Rock N Roll ganz weit hinter sich und oszillieren auf ihrem Debüt „The Man Who“ zwischen intimem Chamber Pop und elegischem Pathos. So als würde man alles Verspielte, alles Eklektische und Wahnwitzige von Bands wie Suede und Pulp entfernen, um zu ihrem melancholischen Kern vorzudringen. Gerne darf man Travis vorwerfen, dass sie dabei deutlich unbedarfter, naiver und unschuldiger klingen als ihre Väter, aber sie haben eben auch keinen Sarkasmus und keinen Zynismus nötig. Sie können voll und ganz ihre Gefühle zulassen und äußern, brauchen keinen derben Rockfilter, keine Musikgeschichte, hinter der sie sich verstecken können. Vielleicht ist es auch die Offenheit, die bedingungslose emotionale Transparenz, die die Second Wave des Britpop, beziehungsweise die Post-Britpop-Vertreter von ihren Eltern und Großeltern abhebt. Das Spiel ist vorbei, wir brauchen uns nicht mehr zu tarnen und zu verstecken. Stattdessen können wir offen herauslassen, wie es uns geht. Stärke und Extravaganz sind keine Must Haves mehr, die Kraft kommt mehr aus dem Herzen, weniger aus dem Kopf. So oder so ähnlich… The Man Who ist auf jeden Fall ein großes Popalbum, dessen melancholische Hymnen auch heute noch zu begeistern wissen.

Coldplay – Parachutes

(Parlophone, 2000)

Und damit wären wir im neuen Jahrtausend angekommen. Aber obwohl Coldplay Parachutes im Jahr 2000 veröffentlicht wurde, gehört es genau hier hin. Es ist DAS Album für all diejenigen, die den Weg von Radiohead ins neue Jahrtausend noch nicht bereit waren, mitzugehen; DAS Album für all jene, denen Kid A zu elektronisch, zu experimentell, einfach zu avantgardistisch war. Coldplay spielen in ihrer Frühzeit im Grunde genommen nicht nur melancholischen sondern auch nostalgischen Britpop, die richtige Brise ungefilterte Traurigkeit für all jene, die vor allem die Melancholie und Traurigkeit (Mit einem Schuss Optimismus und elegantem Pathos) am Britpop am meisten bewundert haben: Radiohead minus Zynismus, The Verve minus absolute Verzweiflung, Suede minus avantgardistische Spielereien. Und das ist – trotz der ganzen Minus – nicht nur deutlich besser, als man vermuten könnte, sondern auch das beste was Coldplay jemals auf Platte gebannt haben. Parachutes atmet noch einmal tief durch, badet in 90er Jahre Träumerei und Melancholie, gibt sich pittoresk poppig und schüchtern episch, ist elegant, einfühlsam und einfach unfassbar verzaubernd. Nicht nur einfach Post-Britpop sondern auch irgendwie Last Britpop, ein Abschied mit einem kleinen Lächeln und natürlich einer Träne, und damit der perfekte Abschluss für das Popjahrzehnt, vollkommen unabhängig davon, wie groß Coldplay in der Folgezeit werden sollten.

Bands/Künstler_Innen: Blur, Coldplay, Cornershop, David Devant And His Spirit Wife, Kennickie, Manic Street Preachers, Muse, Oasis, Perfume, Pulp, Radiohead, Stereophonics, The Charlatans, Travis, | Genres: Alternative Rock, Art Pop, Art Rock, Britpop, Pop, Rock, | Jahrzehnt: 1990er,


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